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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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Lulu war nicht Herzog von Bordeaux. Krieg folgte auf Krieg, so daß die
Marmorinschrift an der Börse aus jener grauen Vorzeit zu stammen schien,
wie die alten römischen Inschriften und Denkmäler, die einstmals Lüi-ZjMlli.
oder Liturigium Vivikzeoruin geziert hatten, noch bevor Eutropius und Ausonius
hier das Licht der Welt erblickten. Außerdem war die centralistische Richtung
des Leconä emM'ö, die Ausbeutung des ganzen Landes zu Gunsten der
Hauptstadt, gerade den großen Handelsstädten Bordeaux, Lyon, Marseille.
Havre, eine bleibende Quelle eifersüchtigen und berechtigten Mißtrauens und
Neides. Man war sich seiner Leistungen für Frankreich bewußt; der Staat
aber forderte bloß schwere Pflichten, er gewährte geringe Gegenleistungen.
Zudem veränderte die leichte zügellose Sinnlichkeit der Hauptstadt, deren mäch¬
tiger Rückschlag auf ganz Frankreich nirgends ausblieb, auch hier das Leben
der Bewohner von Grund aus. Heiterer Lebensgenuß, die feinsten Bedürf¬
nisse einer überreichen Culturstadt, waren ja natürlich auch den glücklichen
Bürgern dieser Stadt nicht fremd geblieben, von denen die Welt die feinsten
Weine eintauschte, die tausend Masten über das weite Meer sandten, deren
prunkende Häuser sich stundenweit in dem breiten Strom der Garonne spie¬
gelten , während der milde blaue Himmel Südfrankreichs sich über einer Land¬
schaft wölbte, in der auch der rauhe Fels kostbaren Neben Nahrung und
Leben bot. Aber der Reichthum war hier von Alters her gewohnt, seinen
Stolz in einem edeln seinen Genuß des Lebens zu suchen, in weltmännischer
Bildung und einem weiten Horizont der Gedanken. Die Erinnerung an die
dreihundertjährige Vereinigung mit dem Staat und Herrscherhaus der Bri¬
ten, dessen ritterliche Söhne hier an der Garonne vorzugsweise gerne weilten,
war der Stadt nicht verloren, ließ sich an hundert Zügen des geistigeren Le¬
bens und Genusses der hiesigen Handelsaristokratie nachweisen. Unter dem zwei¬
ten Kaiserreich ist das, wie gesagt, anders geworden. Der Pöbel des Hafens
war sehr empfänglich für die nobeln Passionen des Pariser Gamin. Die im
Vergleich zu andern französischen Städten enorme Steigerung der Bevölkerung,
des Handels, der räumlichen Ausdehnung der Stadt, hat die Bewohner im
gleichen Maße verflacht und herabgezogen, statt verfeinert. Hier konnte in
der That Gambetta seine Willkührherrschaft am sichersten auf die souveränen
Massen stützen, und wenn der prachtvolle Hof des Hotel de Ville sich mit dem
Volke der Straße füllte und die Tausende sich an des Dictators bluttriefen¬
den Phrasen begeisterten, da mochte er wähnen, das sei die Stimmung
Frankreichs.

Allein das Hafenvolk von Bordeaux war so wenig Frankreich wie der
Arbeiter von La Vilette und dem Faubourg Se. Antoine. Entschlossen, bis
zur Verhaftung des Dictators zu schreiten, ergriffen zu Anfang dieses Monats
die Delegirten der Pariser Regierung, namentlich der kräftige Simon, die


Lulu war nicht Herzog von Bordeaux. Krieg folgte auf Krieg, so daß die
Marmorinschrift an der Börse aus jener grauen Vorzeit zu stammen schien,
wie die alten römischen Inschriften und Denkmäler, die einstmals Lüi-ZjMlli.
oder Liturigium Vivikzeoruin geziert hatten, noch bevor Eutropius und Ausonius
hier das Licht der Welt erblickten. Außerdem war die centralistische Richtung
des Leconä emM'ö, die Ausbeutung des ganzen Landes zu Gunsten der
Hauptstadt, gerade den großen Handelsstädten Bordeaux, Lyon, Marseille.
Havre, eine bleibende Quelle eifersüchtigen und berechtigten Mißtrauens und
Neides. Man war sich seiner Leistungen für Frankreich bewußt; der Staat
aber forderte bloß schwere Pflichten, er gewährte geringe Gegenleistungen.
Zudem veränderte die leichte zügellose Sinnlichkeit der Hauptstadt, deren mäch¬
tiger Rückschlag auf ganz Frankreich nirgends ausblieb, auch hier das Leben
der Bewohner von Grund aus. Heiterer Lebensgenuß, die feinsten Bedürf¬
nisse einer überreichen Culturstadt, waren ja natürlich auch den glücklichen
Bürgern dieser Stadt nicht fremd geblieben, von denen die Welt die feinsten
Weine eintauschte, die tausend Masten über das weite Meer sandten, deren
prunkende Häuser sich stundenweit in dem breiten Strom der Garonne spie¬
gelten , während der milde blaue Himmel Südfrankreichs sich über einer Land¬
schaft wölbte, in der auch der rauhe Fels kostbaren Neben Nahrung und
Leben bot. Aber der Reichthum war hier von Alters her gewohnt, seinen
Stolz in einem edeln seinen Genuß des Lebens zu suchen, in weltmännischer
Bildung und einem weiten Horizont der Gedanken. Die Erinnerung an die
dreihundertjährige Vereinigung mit dem Staat und Herrscherhaus der Bri¬
ten, dessen ritterliche Söhne hier an der Garonne vorzugsweise gerne weilten,
war der Stadt nicht verloren, ließ sich an hundert Zügen des geistigeren Le¬
bens und Genusses der hiesigen Handelsaristokratie nachweisen. Unter dem zwei¬
ten Kaiserreich ist das, wie gesagt, anders geworden. Der Pöbel des Hafens
war sehr empfänglich für die nobeln Passionen des Pariser Gamin. Die im
Vergleich zu andern französischen Städten enorme Steigerung der Bevölkerung,
des Handels, der räumlichen Ausdehnung der Stadt, hat die Bewohner im
gleichen Maße verflacht und herabgezogen, statt verfeinert. Hier konnte in
der That Gambetta seine Willkührherrschaft am sichersten auf die souveränen
Massen stützen, und wenn der prachtvolle Hof des Hotel de Ville sich mit dem
Volke der Straße füllte und die Tausende sich an des Dictators bluttriefen¬
den Phrasen begeisterten, da mochte er wähnen, das sei die Stimmung
Frankreichs.

Allein das Hafenvolk von Bordeaux war so wenig Frankreich wie der
Arbeiter von La Vilette und dem Faubourg Se. Antoine. Entschlossen, bis
zur Verhaftung des Dictators zu schreiten, ergriffen zu Anfang dieses Monats
die Delegirten der Pariser Regierung, namentlich der kräftige Simon, die


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[0369] Lulu war nicht Herzog von Bordeaux. Krieg folgte auf Krieg, so daß die Marmorinschrift an der Börse aus jener grauen Vorzeit zu stammen schien, wie die alten römischen Inschriften und Denkmäler, die einstmals Lüi-ZjMlli. oder Liturigium Vivikzeoruin geziert hatten, noch bevor Eutropius und Ausonius hier das Licht der Welt erblickten. Außerdem war die centralistische Richtung des Leconä emM'ö, die Ausbeutung des ganzen Landes zu Gunsten der Hauptstadt, gerade den großen Handelsstädten Bordeaux, Lyon, Marseille. Havre, eine bleibende Quelle eifersüchtigen und berechtigten Mißtrauens und Neides. Man war sich seiner Leistungen für Frankreich bewußt; der Staat aber forderte bloß schwere Pflichten, er gewährte geringe Gegenleistungen. Zudem veränderte die leichte zügellose Sinnlichkeit der Hauptstadt, deren mäch¬ tiger Rückschlag auf ganz Frankreich nirgends ausblieb, auch hier das Leben der Bewohner von Grund aus. Heiterer Lebensgenuß, die feinsten Bedürf¬ nisse einer überreichen Culturstadt, waren ja natürlich auch den glücklichen Bürgern dieser Stadt nicht fremd geblieben, von denen die Welt die feinsten Weine eintauschte, die tausend Masten über das weite Meer sandten, deren prunkende Häuser sich stundenweit in dem breiten Strom der Garonne spie¬ gelten , während der milde blaue Himmel Südfrankreichs sich über einer Land¬ schaft wölbte, in der auch der rauhe Fels kostbaren Neben Nahrung und Leben bot. Aber der Reichthum war hier von Alters her gewohnt, seinen Stolz in einem edeln seinen Genuß des Lebens zu suchen, in weltmännischer Bildung und einem weiten Horizont der Gedanken. Die Erinnerung an die dreihundertjährige Vereinigung mit dem Staat und Herrscherhaus der Bri¬ ten, dessen ritterliche Söhne hier an der Garonne vorzugsweise gerne weilten, war der Stadt nicht verloren, ließ sich an hundert Zügen des geistigeren Le¬ bens und Genusses der hiesigen Handelsaristokratie nachweisen. Unter dem zwei¬ ten Kaiserreich ist das, wie gesagt, anders geworden. Der Pöbel des Hafens war sehr empfänglich für die nobeln Passionen des Pariser Gamin. Die im Vergleich zu andern französischen Städten enorme Steigerung der Bevölkerung, des Handels, der räumlichen Ausdehnung der Stadt, hat die Bewohner im gleichen Maße verflacht und herabgezogen, statt verfeinert. Hier konnte in der That Gambetta seine Willkührherrschaft am sichersten auf die souveränen Massen stützen, und wenn der prachtvolle Hof des Hotel de Ville sich mit dem Volke der Straße füllte und die Tausende sich an des Dictators bluttriefen¬ den Phrasen begeisterten, da mochte er wähnen, das sei die Stimmung Frankreichs. Allein das Hafenvolk von Bordeaux war so wenig Frankreich wie der Arbeiter von La Vilette und dem Faubourg Se. Antoine. Entschlossen, bis zur Verhaftung des Dictators zu schreiten, ergriffen zu Anfang dieses Monats die Delegirten der Pariser Regierung, namentlich der kräftige Simon, die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/369>, abgerufen am 26.06.2024.