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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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in die höchsten Kreise, wie in die tiefsten Schichten der Wiener Gesellschaft,
in ihre Strebungen und die üppige, leichtlebige, oberflächliche Lebensauf¬
fassung der großen Mehrzahl unserer hauptstädtischen Bevölkerung. Drei
Parteien, freilich mit vielen Abarten, können wir unter den deutschen Wienern
unterscheiden: die Altwiener, die Neuwiener und die Deutschnationalen. In
einem Punkte stimmen die ersten zwei überein: in der Ansicht, daß der Mensch
nur des Vergnügens halber da sei. Spricht die erste Partei von der Kaiser¬
stadt und schwelgt sie in den Erinnerungen an den "guten" Kaiser Franz, an
den "großen" Mettern ich, seufzt sie, "das Volk der Phäaken", nach den billi¬
gen Hühner- und Weinpreisen von dazumal, weicht sie denen "aus Deutsch¬
land draußen" behutsam aus, so ist das Benehmen der zweiten jüngeren,
aber keineswegs verbesserten Auflage des Wienerthums ein ganz anderes.
Dieses Geschlecht schwärmt für gar nichts, hat nie geschwärmt, wird nie
schwärmen, Begeisterung ist ihm ein unbekannter und unnützer Artikel. Sein
Streben geht lediglich darauf aus, Wien zu einem großen Paris zu machen.
Seine Ideale -- sit veuig. vsrdo -- sind, kurz gesagt, politisch: die Repu¬
blik ohne Steuern und Staatspflichten; religiös die Confesfions- oder besser
gesagt die Religionslosigkeit; seine pnblicistische Nahrung Blätter, wie die
famose "Tagespresse" und der "Kikeriki", seine Musentempel die Volkssänger-
Etablissements und OatLs dmntlwts, sein Musikheros, der "geniale" Offen¬
bach, ein Lieblingsamusement das Ballet oder noch besser der Cancan; das
weibliche Geschlecht lernt es in abgestandenen Chansonettensängerinnen und
anderen Unaussprechlichen verehren. Die literarische Ausbildung dieser "Deutsch-
Wiener" besorgen die berühmten Bücher von Paul de Kock, gewisse Memoi¬
ren, einige Wiener Bücherfabrikanten, im höchsten Falle schwingt man sich
zu einigem Heine empor, für den durch die zahlreich vertretenen semitischen
Elemente dieser Partei lohnende Reclame gemacht wird. Eine weitere Charak¬
teristik von dieser Species ist der immense Preußenhaß, die Begeisterung für
alle unklaren Köpfe, die Sympathie für alles Französische, die nervöse Ge¬
reiztheit gegen alles Gesunde, Feste, Kräftige. Die dritte, stets wachsende
Partei ist diejenige, welche von den Errungenschaften des Jahres 1848 am
meisten gewannen, deren Studienzeit bereits in die Jahre unserer Schulreform
fiel, die im deutschen Geiste lernten, die in steter Verbindung blieben mit den
Leistungen deutscher Wissenschaft und Kunst. Doch hat sie auch aus der älteren
Generation und dem unstudirten Bürgerthum starke Zuzüge gewonnen. Gute
Oestreicher sind auch sie, aber sie meinen, unserer südlicheren Natur, unserem
leicht angeregten, zur heiteren Geselligkeit hinneigenden Wesen würde eine Bei¬
mischung von norddeutscher Religiosität, Sparsamkeit, Fleiß und Sittlichkeit nicht
schaden. Sie fühlen sich geistig vereint mit ihren Stammesverwandten un-d
wissen, daß jeder Erfolg, den sie erringen, jeder Zoll Boden, 'den sie deutscher


G>e"zbolc" I. 1871. 4ü

in die höchsten Kreise, wie in die tiefsten Schichten der Wiener Gesellschaft,
in ihre Strebungen und die üppige, leichtlebige, oberflächliche Lebensauf¬
fassung der großen Mehrzahl unserer hauptstädtischen Bevölkerung. Drei
Parteien, freilich mit vielen Abarten, können wir unter den deutschen Wienern
unterscheiden: die Altwiener, die Neuwiener und die Deutschnationalen. In
einem Punkte stimmen die ersten zwei überein: in der Ansicht, daß der Mensch
nur des Vergnügens halber da sei. Spricht die erste Partei von der Kaiser¬
stadt und schwelgt sie in den Erinnerungen an den „guten" Kaiser Franz, an
den „großen" Mettern ich, seufzt sie, „das Volk der Phäaken", nach den billi¬
gen Hühner- und Weinpreisen von dazumal, weicht sie denen „aus Deutsch¬
land draußen" behutsam aus, so ist das Benehmen der zweiten jüngeren,
aber keineswegs verbesserten Auflage des Wienerthums ein ganz anderes.
Dieses Geschlecht schwärmt für gar nichts, hat nie geschwärmt, wird nie
schwärmen, Begeisterung ist ihm ein unbekannter und unnützer Artikel. Sein
Streben geht lediglich darauf aus, Wien zu einem großen Paris zu machen.
Seine Ideale — sit veuig. vsrdo — sind, kurz gesagt, politisch: die Repu¬
blik ohne Steuern und Staatspflichten; religiös die Confesfions- oder besser
gesagt die Religionslosigkeit; seine pnblicistische Nahrung Blätter, wie die
famose „Tagespresse" und der „Kikeriki", seine Musentempel die Volkssänger-
Etablissements und OatLs dmntlwts, sein Musikheros, der „geniale" Offen¬
bach, ein Lieblingsamusement das Ballet oder noch besser der Cancan; das
weibliche Geschlecht lernt es in abgestandenen Chansonettensängerinnen und
anderen Unaussprechlichen verehren. Die literarische Ausbildung dieser „Deutsch-
Wiener" besorgen die berühmten Bücher von Paul de Kock, gewisse Memoi¬
ren, einige Wiener Bücherfabrikanten, im höchsten Falle schwingt man sich
zu einigem Heine empor, für den durch die zahlreich vertretenen semitischen
Elemente dieser Partei lohnende Reclame gemacht wird. Eine weitere Charak¬
teristik von dieser Species ist der immense Preußenhaß, die Begeisterung für
alle unklaren Köpfe, die Sympathie für alles Französische, die nervöse Ge¬
reiztheit gegen alles Gesunde, Feste, Kräftige. Die dritte, stets wachsende
Partei ist diejenige, welche von den Errungenschaften des Jahres 1848 am
meisten gewannen, deren Studienzeit bereits in die Jahre unserer Schulreform
fiel, die im deutschen Geiste lernten, die in steter Verbindung blieben mit den
Leistungen deutscher Wissenschaft und Kunst. Doch hat sie auch aus der älteren
Generation und dem unstudirten Bürgerthum starke Zuzüge gewonnen. Gute
Oestreicher sind auch sie, aber sie meinen, unserer südlicheren Natur, unserem
leicht angeregten, zur heiteren Geselligkeit hinneigenden Wesen würde eine Bei¬
mischung von norddeutscher Religiosität, Sparsamkeit, Fleiß und Sittlichkeit nicht
schaden. Sie fühlen sich geistig vereint mit ihren Stammesverwandten un-d
wissen, daß jeder Erfolg, den sie erringen, jeder Zoll Boden, 'den sie deutscher


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[0357] in die höchsten Kreise, wie in die tiefsten Schichten der Wiener Gesellschaft, in ihre Strebungen und die üppige, leichtlebige, oberflächliche Lebensauf¬ fassung der großen Mehrzahl unserer hauptstädtischen Bevölkerung. Drei Parteien, freilich mit vielen Abarten, können wir unter den deutschen Wienern unterscheiden: die Altwiener, die Neuwiener und die Deutschnationalen. In einem Punkte stimmen die ersten zwei überein: in der Ansicht, daß der Mensch nur des Vergnügens halber da sei. Spricht die erste Partei von der Kaiser¬ stadt und schwelgt sie in den Erinnerungen an den „guten" Kaiser Franz, an den „großen" Mettern ich, seufzt sie, „das Volk der Phäaken", nach den billi¬ gen Hühner- und Weinpreisen von dazumal, weicht sie denen „aus Deutsch¬ land draußen" behutsam aus, so ist das Benehmen der zweiten jüngeren, aber keineswegs verbesserten Auflage des Wienerthums ein ganz anderes. Dieses Geschlecht schwärmt für gar nichts, hat nie geschwärmt, wird nie schwärmen, Begeisterung ist ihm ein unbekannter und unnützer Artikel. Sein Streben geht lediglich darauf aus, Wien zu einem großen Paris zu machen. Seine Ideale — sit veuig. vsrdo — sind, kurz gesagt, politisch: die Repu¬ blik ohne Steuern und Staatspflichten; religiös die Confesfions- oder besser gesagt die Religionslosigkeit; seine pnblicistische Nahrung Blätter, wie die famose „Tagespresse" und der „Kikeriki", seine Musentempel die Volkssänger- Etablissements und OatLs dmntlwts, sein Musikheros, der „geniale" Offen¬ bach, ein Lieblingsamusement das Ballet oder noch besser der Cancan; das weibliche Geschlecht lernt es in abgestandenen Chansonettensängerinnen und anderen Unaussprechlichen verehren. Die literarische Ausbildung dieser „Deutsch- Wiener" besorgen die berühmten Bücher von Paul de Kock, gewisse Memoi¬ ren, einige Wiener Bücherfabrikanten, im höchsten Falle schwingt man sich zu einigem Heine empor, für den durch die zahlreich vertretenen semitischen Elemente dieser Partei lohnende Reclame gemacht wird. Eine weitere Charak¬ teristik von dieser Species ist der immense Preußenhaß, die Begeisterung für alle unklaren Köpfe, die Sympathie für alles Französische, die nervöse Ge¬ reiztheit gegen alles Gesunde, Feste, Kräftige. Die dritte, stets wachsende Partei ist diejenige, welche von den Errungenschaften des Jahres 1848 am meisten gewannen, deren Studienzeit bereits in die Jahre unserer Schulreform fiel, die im deutschen Geiste lernten, die in steter Verbindung blieben mit den Leistungen deutscher Wissenschaft und Kunst. Doch hat sie auch aus der älteren Generation und dem unstudirten Bürgerthum starke Zuzüge gewonnen. Gute Oestreicher sind auch sie, aber sie meinen, unserer südlicheren Natur, unserem leicht angeregten, zur heiteren Geselligkeit hinneigenden Wesen würde eine Bei¬ mischung von norddeutscher Religiosität, Sparsamkeit, Fleiß und Sittlichkeit nicht schaden. Sie fühlen sich geistig vereint mit ihren Stammesverwandten un-d wissen, daß jeder Erfolg, den sie erringen, jeder Zoll Boden, 'den sie deutscher G>e»zbolc» I. 1871. 4ü

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/357>, abgerufen am 26.06.2024.