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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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den Cäsarismus" des deutschen Staates, umsonst auch schmollen einige in¬
teressante Natiönchen unserer Negierung wegen ihrer "Sympathien für Deutsch¬
land."*) Umsonst alles das -- die Phalanx der deutschgefinntcn Oestreicher ist
nicht mehr zu durchbrechen. Fragen wir uns aber, wie es kommt, daß in
Wien, in jener Stadt, die schon Sonnenfels als die eigentliche Hauptstadt
Deutschlands bezeichnete (freilich zu Lessing's höchstem Ergötzen) ein so wun¬
derliches Gemengsel von Stimmungen sich geltend machte, daß in diesem Kriege
die Parteien so rasch wechselten, daß der Schlachttag von Sedan uns Deut¬
schen Anhänger entführte, der Siegeslauf der deutschen Heere im Ganzen aber
uns noch mehr Parteigenossen gewann, so ist die Antwort nicht allzuschwer.
Leicht gibt die Erklärung der an Nationen, Natiönchen, Parteien, Confessionen
und Bildungsnuancen überreiche Charakter unserer Monarchie. Es ist nur
natürlich, daß die zahlreichen Slaven Wiens dem deutschen Einigungswerke
mit ganz anderen Augen zusahen, als die hier wohnenden Italiener und die
vor Rußland hangenden Ungarn. Aber wie kommt der heftige Gegensatz in
die Deutschöstreicher, in die deutschen Wiener? Zur Beantwortung dieser Frage
liefert ein eben erschienenes Buch reiches Material, das Buch eines talentvollen
Wiener Professors Karl Landsteiner: Das Babel des Ostens. Würz¬
burg, L. Wort 1871 (320 S.), auf das wir größere Kreise aufmerksam machen wol¬
len. Denn wer das Wiener Leben in vielen bedeutsamen Richtungen kennen lernen
will, findet hier einen unterhaltenden und erfahrenen Führer. Der Verfasser,
ein noch junger k. Priester, den die "Partei-Disciplin" in seinem Vater¬
lande nicht aufkommen läßt, mühte sich Jahre hindurch in Gedichten (z. B.
Pulsschläge) wie Romanen (E. Fröhlich, aus den Papieren eines Unbekann¬
ten, die Kinder des Lichtes) ab, die streng-katholischen Tendenzen mit den An¬
forderungen der modernen Wissenschaft und des modernen Staates in Ein¬
klang zu bringen. So undankbar die Arbeit, so hat er sich ihr doch stets
in pikanter, origineller und geistreicher Weise unterzogen. Darum war sehr
lobenswert!), daß der junge Dichter sich endlich völlig von der Partei los¬
machte, die ohnedem seinen Werth stets verkannte, und sich aufrichtig nicht
unseren Dutzendliteraten, sondern jener Mittelpartei anschloß, die vor Allem
nicht auf ihren Verstand und ihr deutsches Stammesbewußtsein verzichten will.
Das obengenannte Buch bildet in dieser Richtung des Autors einen wesent¬
lichen Fortschritt, und verdient, mit Ausnahme einiger etwas allzu stark in
die Localfarben getauchter Capitel, einiger noch etwas altöstreichischer Ansich¬
ten, einer gewissen Ueberschätzung der Wiener, unsern Beifall. Nur das Eine
muß vorausgeschickt werden: hie und da ist der Humor des Schriftstellers
nicht klar und die Ironie über das oft tadelnswerthe Treiben nicht deutlich
genug! Aber die Hauptsache ist geleistet: das Buch gibt uns einen Einblick



D. Red, Der Artikel ist vor der letzten Ministerwandlung in Oestreich geschrieben.

den Cäsarismus" des deutschen Staates, umsonst auch schmollen einige in¬
teressante Natiönchen unserer Negierung wegen ihrer „Sympathien für Deutsch¬
land."*) Umsonst alles das — die Phalanx der deutschgefinntcn Oestreicher ist
nicht mehr zu durchbrechen. Fragen wir uns aber, wie es kommt, daß in
Wien, in jener Stadt, die schon Sonnenfels als die eigentliche Hauptstadt
Deutschlands bezeichnete (freilich zu Lessing's höchstem Ergötzen) ein so wun¬
derliches Gemengsel von Stimmungen sich geltend machte, daß in diesem Kriege
die Parteien so rasch wechselten, daß der Schlachttag von Sedan uns Deut¬
schen Anhänger entführte, der Siegeslauf der deutschen Heere im Ganzen aber
uns noch mehr Parteigenossen gewann, so ist die Antwort nicht allzuschwer.
Leicht gibt die Erklärung der an Nationen, Natiönchen, Parteien, Confessionen
und Bildungsnuancen überreiche Charakter unserer Monarchie. Es ist nur
natürlich, daß die zahlreichen Slaven Wiens dem deutschen Einigungswerke
mit ganz anderen Augen zusahen, als die hier wohnenden Italiener und die
vor Rußland hangenden Ungarn. Aber wie kommt der heftige Gegensatz in
die Deutschöstreicher, in die deutschen Wiener? Zur Beantwortung dieser Frage
liefert ein eben erschienenes Buch reiches Material, das Buch eines talentvollen
Wiener Professors Karl Landsteiner: Das Babel des Ostens. Würz¬
burg, L. Wort 1871 (320 S.), auf das wir größere Kreise aufmerksam machen wol¬
len. Denn wer das Wiener Leben in vielen bedeutsamen Richtungen kennen lernen
will, findet hier einen unterhaltenden und erfahrenen Führer. Der Verfasser,
ein noch junger k. Priester, den die „Partei-Disciplin" in seinem Vater¬
lande nicht aufkommen läßt, mühte sich Jahre hindurch in Gedichten (z. B.
Pulsschläge) wie Romanen (E. Fröhlich, aus den Papieren eines Unbekann¬
ten, die Kinder des Lichtes) ab, die streng-katholischen Tendenzen mit den An¬
forderungen der modernen Wissenschaft und des modernen Staates in Ein¬
klang zu bringen. So undankbar die Arbeit, so hat er sich ihr doch stets
in pikanter, origineller und geistreicher Weise unterzogen. Darum war sehr
lobenswert!), daß der junge Dichter sich endlich völlig von der Partei los¬
machte, die ohnedem seinen Werth stets verkannte, und sich aufrichtig nicht
unseren Dutzendliteraten, sondern jener Mittelpartei anschloß, die vor Allem
nicht auf ihren Verstand und ihr deutsches Stammesbewußtsein verzichten will.
Das obengenannte Buch bildet in dieser Richtung des Autors einen wesent¬
lichen Fortschritt, und verdient, mit Ausnahme einiger etwas allzu stark in
die Localfarben getauchter Capitel, einiger noch etwas altöstreichischer Ansich¬
ten, einer gewissen Ueberschätzung der Wiener, unsern Beifall. Nur das Eine
muß vorausgeschickt werden: hie und da ist der Humor des Schriftstellers
nicht klar und die Ironie über das oft tadelnswerthe Treiben nicht deutlich
genug! Aber die Hauptsache ist geleistet: das Buch gibt uns einen Einblick



D. Red, Der Artikel ist vor der letzten Ministerwandlung in Oestreich geschrieben.
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[0356] den Cäsarismus" des deutschen Staates, umsonst auch schmollen einige in¬ teressante Natiönchen unserer Negierung wegen ihrer „Sympathien für Deutsch¬ land."*) Umsonst alles das — die Phalanx der deutschgefinntcn Oestreicher ist nicht mehr zu durchbrechen. Fragen wir uns aber, wie es kommt, daß in Wien, in jener Stadt, die schon Sonnenfels als die eigentliche Hauptstadt Deutschlands bezeichnete (freilich zu Lessing's höchstem Ergötzen) ein so wun¬ derliches Gemengsel von Stimmungen sich geltend machte, daß in diesem Kriege die Parteien so rasch wechselten, daß der Schlachttag von Sedan uns Deut¬ schen Anhänger entführte, der Siegeslauf der deutschen Heere im Ganzen aber uns noch mehr Parteigenossen gewann, so ist die Antwort nicht allzuschwer. Leicht gibt die Erklärung der an Nationen, Natiönchen, Parteien, Confessionen und Bildungsnuancen überreiche Charakter unserer Monarchie. Es ist nur natürlich, daß die zahlreichen Slaven Wiens dem deutschen Einigungswerke mit ganz anderen Augen zusahen, als die hier wohnenden Italiener und die vor Rußland hangenden Ungarn. Aber wie kommt der heftige Gegensatz in die Deutschöstreicher, in die deutschen Wiener? Zur Beantwortung dieser Frage liefert ein eben erschienenes Buch reiches Material, das Buch eines talentvollen Wiener Professors Karl Landsteiner: Das Babel des Ostens. Würz¬ burg, L. Wort 1871 (320 S.), auf das wir größere Kreise aufmerksam machen wol¬ len. Denn wer das Wiener Leben in vielen bedeutsamen Richtungen kennen lernen will, findet hier einen unterhaltenden und erfahrenen Führer. Der Verfasser, ein noch junger k. Priester, den die „Partei-Disciplin" in seinem Vater¬ lande nicht aufkommen läßt, mühte sich Jahre hindurch in Gedichten (z. B. Pulsschläge) wie Romanen (E. Fröhlich, aus den Papieren eines Unbekann¬ ten, die Kinder des Lichtes) ab, die streng-katholischen Tendenzen mit den An¬ forderungen der modernen Wissenschaft und des modernen Staates in Ein¬ klang zu bringen. So undankbar die Arbeit, so hat er sich ihr doch stets in pikanter, origineller und geistreicher Weise unterzogen. Darum war sehr lobenswert!), daß der junge Dichter sich endlich völlig von der Partei los¬ machte, die ohnedem seinen Werth stets verkannte, und sich aufrichtig nicht unseren Dutzendliteraten, sondern jener Mittelpartei anschloß, die vor Allem nicht auf ihren Verstand und ihr deutsches Stammesbewußtsein verzichten will. Das obengenannte Buch bildet in dieser Richtung des Autors einen wesent¬ lichen Fortschritt, und verdient, mit Ausnahme einiger etwas allzu stark in die Localfarben getauchter Capitel, einiger noch etwas altöstreichischer Ansich¬ ten, einer gewissen Ueberschätzung der Wiener, unsern Beifall. Nur das Eine muß vorausgeschickt werden: hie und da ist der Humor des Schriftstellers nicht klar und die Ironie über das oft tadelnswerthe Treiben nicht deutlich genug! Aber die Hauptsache ist geleistet: das Buch gibt uns einen Einblick D. Red, Der Artikel ist vor der letzten Ministerwandlung in Oestreich geschrieben.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/356>, abgerufen am 26.06.2024.