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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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ragende Jdagebirge, an seinem Fuß eine längst zerstörte Stadt, Ilion; weiter¬
hin am Meere die Grabhügel der Helden'Achilleus, Hektor, Patroklos. Man
wußte, daß adlige Geschlechter von drüben, geführt von Argivischen Königs¬
söhnen, den Atriden, herübergekommen waren und sich neue Wohnsitze er¬
kämpft hatten. So gestaltete sich in der Phantasie das Bild eines gewalti¬
gen nationalen Kriegszuges der gesammten Blüthe Griechenlands gegen ein
mächtiges Barbarenreich, dessen Abkömmlinge ja noch immer die Abhänge
des Jda bewohnten. In dieses große Gemälde des Zusammenstoßes zweier,
an Kraft kund Bildung ebenbürtiger Völker wurde nach und nach wie in
eine umfassende Urkunde fast der ganze Schatz heldenhafter Erinnerungen in
künstlerischer Perspective aufgenommen.

Wir können die beiden dornigen Fragen nach dem mythisch-historischen
Kern der Troischen Sage sowie nach der Einheit und Zusammensetzung der
unter dem Namen Ilias verbundenen Gesänge hier bei Seite lassen, und uns
einfach auf den naiven Standpunkt stellen, welchen Thukydides, Aristoteles,
Alexander der Große, die ganze griechische Nation ihnen gegenüber eingenom¬
men hat, indem wir sie als ehrwürdige Monumente und beredte Zeugen von
den Anschauungen und Empfindungen betrachten, welche die Menschen des
homerischen Zeitalters, etwa im neunten Jahrhundert vor unserer Zeit¬
rechnung bewegten.

Wenn es sich auch buchstäblich nur um die Genugthuung für einen be¬
leidigten königlichen Gemahl und die Auslieferung seiner entführten Gattin
handelt, so hatte doch das Unternehmen Dimensionen, welche ihm den Cha¬
rakter eines Entscheidungskampfes um die Existenz zweier Nationen aufprägt,
deren eine den Westen, die andere den Osten der gesitteten Welt beherrschte.
Die Borkämpfer aber sind nicht gewöhnliche Sterbliche, sondern göttlicher
Abkunft, zum Theil noch menschliche Gestaltungen dämonischer Naturkräfte,
wie Achilleus, der thessalische Dämon des reißenden Gebirgsstromes. Noch
einmal greifen auch die Olympier zu den Waffen und theilen sich in beide
Feldlager, aber es handelt sich nicht mehr um ihre eigene Existenz. Die Ent¬
scheidung ist vom unentrinnbaren Geschick vorherbestimmt, nur zu gelegent¬
licher Unterstützung desselben oder in augenblicklicher Laune, gleichsam zum
Spiel und Zeitvertreib mischen sich die Unsterblichen hinein, schlagen mit ge¬
waltigem Getöse aufeinander, ermuntern, schützen, unterstützen ihre Lieblinge,
werden sogar hie und da zur Belustigung der Uebrigen von den Waffen eines
Sterblichen geritzt oder niedergestreckt. Ganz an den Titanenkampf erinnert
jene Götterschlacht der Ilias: hier bei den Griechen Athene, dort von der
Beste der Stadt herab Ares, dem dunkeln Sturmwinde gleich eilend und den
Schlachtruf erhebend, wie zwei Feldherrn. Ueber Allen die gewaltigen Don¬
ner des Zeus. Poseidon erschüttert Erde und Berggipfel, der Jda, die Stadt


ragende Jdagebirge, an seinem Fuß eine längst zerstörte Stadt, Ilion; weiter¬
hin am Meere die Grabhügel der Helden'Achilleus, Hektor, Patroklos. Man
wußte, daß adlige Geschlechter von drüben, geführt von Argivischen Königs¬
söhnen, den Atriden, herübergekommen waren und sich neue Wohnsitze er¬
kämpft hatten. So gestaltete sich in der Phantasie das Bild eines gewalti¬
gen nationalen Kriegszuges der gesammten Blüthe Griechenlands gegen ein
mächtiges Barbarenreich, dessen Abkömmlinge ja noch immer die Abhänge
des Jda bewohnten. In dieses große Gemälde des Zusammenstoßes zweier,
an Kraft kund Bildung ebenbürtiger Völker wurde nach und nach wie in
eine umfassende Urkunde fast der ganze Schatz heldenhafter Erinnerungen in
künstlerischer Perspective aufgenommen.

Wir können die beiden dornigen Fragen nach dem mythisch-historischen
Kern der Troischen Sage sowie nach der Einheit und Zusammensetzung der
unter dem Namen Ilias verbundenen Gesänge hier bei Seite lassen, und uns
einfach auf den naiven Standpunkt stellen, welchen Thukydides, Aristoteles,
Alexander der Große, die ganze griechische Nation ihnen gegenüber eingenom¬
men hat, indem wir sie als ehrwürdige Monumente und beredte Zeugen von
den Anschauungen und Empfindungen betrachten, welche die Menschen des
homerischen Zeitalters, etwa im neunten Jahrhundert vor unserer Zeit¬
rechnung bewegten.

Wenn es sich auch buchstäblich nur um die Genugthuung für einen be¬
leidigten königlichen Gemahl und die Auslieferung seiner entführten Gattin
handelt, so hatte doch das Unternehmen Dimensionen, welche ihm den Cha¬
rakter eines Entscheidungskampfes um die Existenz zweier Nationen aufprägt,
deren eine den Westen, die andere den Osten der gesitteten Welt beherrschte.
Die Borkämpfer aber sind nicht gewöhnliche Sterbliche, sondern göttlicher
Abkunft, zum Theil noch menschliche Gestaltungen dämonischer Naturkräfte,
wie Achilleus, der thessalische Dämon des reißenden Gebirgsstromes. Noch
einmal greifen auch die Olympier zu den Waffen und theilen sich in beide
Feldlager, aber es handelt sich nicht mehr um ihre eigene Existenz. Die Ent¬
scheidung ist vom unentrinnbaren Geschick vorherbestimmt, nur zu gelegent¬
licher Unterstützung desselben oder in augenblicklicher Laune, gleichsam zum
Spiel und Zeitvertreib mischen sich die Unsterblichen hinein, schlagen mit ge¬
waltigem Getöse aufeinander, ermuntern, schützen, unterstützen ihre Lieblinge,
werden sogar hie und da zur Belustigung der Uebrigen von den Waffen eines
Sterblichen geritzt oder niedergestreckt. Ganz an den Titanenkampf erinnert
jene Götterschlacht der Ilias: hier bei den Griechen Athene, dort von der
Beste der Stadt herab Ares, dem dunkeln Sturmwinde gleich eilend und den
Schlachtruf erhebend, wie zwei Feldherrn. Ueber Allen die gewaltigen Don¬
ner des Zeus. Poseidon erschüttert Erde und Berggipfel, der Jda, die Stadt


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[0337] ragende Jdagebirge, an seinem Fuß eine längst zerstörte Stadt, Ilion; weiter¬ hin am Meere die Grabhügel der Helden'Achilleus, Hektor, Patroklos. Man wußte, daß adlige Geschlechter von drüben, geführt von Argivischen Königs¬ söhnen, den Atriden, herübergekommen waren und sich neue Wohnsitze er¬ kämpft hatten. So gestaltete sich in der Phantasie das Bild eines gewalti¬ gen nationalen Kriegszuges der gesammten Blüthe Griechenlands gegen ein mächtiges Barbarenreich, dessen Abkömmlinge ja noch immer die Abhänge des Jda bewohnten. In dieses große Gemälde des Zusammenstoßes zweier, an Kraft kund Bildung ebenbürtiger Völker wurde nach und nach wie in eine umfassende Urkunde fast der ganze Schatz heldenhafter Erinnerungen in künstlerischer Perspective aufgenommen. Wir können die beiden dornigen Fragen nach dem mythisch-historischen Kern der Troischen Sage sowie nach der Einheit und Zusammensetzung der unter dem Namen Ilias verbundenen Gesänge hier bei Seite lassen, und uns einfach auf den naiven Standpunkt stellen, welchen Thukydides, Aristoteles, Alexander der Große, die ganze griechische Nation ihnen gegenüber eingenom¬ men hat, indem wir sie als ehrwürdige Monumente und beredte Zeugen von den Anschauungen und Empfindungen betrachten, welche die Menschen des homerischen Zeitalters, etwa im neunten Jahrhundert vor unserer Zeit¬ rechnung bewegten. Wenn es sich auch buchstäblich nur um die Genugthuung für einen be¬ leidigten königlichen Gemahl und die Auslieferung seiner entführten Gattin handelt, so hatte doch das Unternehmen Dimensionen, welche ihm den Cha¬ rakter eines Entscheidungskampfes um die Existenz zweier Nationen aufprägt, deren eine den Westen, die andere den Osten der gesitteten Welt beherrschte. Die Borkämpfer aber sind nicht gewöhnliche Sterbliche, sondern göttlicher Abkunft, zum Theil noch menschliche Gestaltungen dämonischer Naturkräfte, wie Achilleus, der thessalische Dämon des reißenden Gebirgsstromes. Noch einmal greifen auch die Olympier zu den Waffen und theilen sich in beide Feldlager, aber es handelt sich nicht mehr um ihre eigene Existenz. Die Ent¬ scheidung ist vom unentrinnbaren Geschick vorherbestimmt, nur zu gelegent¬ licher Unterstützung desselben oder in augenblicklicher Laune, gleichsam zum Spiel und Zeitvertreib mischen sich die Unsterblichen hinein, schlagen mit ge¬ waltigem Getöse aufeinander, ermuntern, schützen, unterstützen ihre Lieblinge, werden sogar hie und da zur Belustigung der Uebrigen von den Waffen eines Sterblichen geritzt oder niedergestreckt. Ganz an den Titanenkampf erinnert jene Götterschlacht der Ilias: hier bei den Griechen Athene, dort von der Beste der Stadt herab Ares, dem dunkeln Sturmwinde gleich eilend und den Schlachtruf erhebend, wie zwei Feldherrn. Ueber Allen die gewaltigen Don¬ ner des Zeus. Poseidon erschüttert Erde und Berggipfel, der Jda, die Stadt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/337>, abgerufen am 28.09.2024.