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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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sie Sicilien über den Kopf und begräbt ihn unter der Masse. Einen Andern
verfolgt Poseidon durch das Meer, reißt ein Stück der Insel Kos ab und
bedeckt ihn damit. Andre trifft Apollo, der Lichtgott, mit seinem Bogen.
Den Ausschlag aber giebt nach dem Schicksalsspruch ein Sterblicher, des Zeus
Sohn Herakles, die unermüdliche Arbeit menschlicher Cultur, die mit
zähester Ausdauer und unwiderstehlichem Willen Herr über die Erde und ihre
wüsten, trotzigen Ausgeburten wird. Seine Pfeile machen den schon verwun¬
deten Rebellen vollends den Garaus.

Und noch enger beschränkt, schon in die Anfänge menschlicher Staaten¬
bildung hineinragend, ist der Kampf der Lapithen und Kentauren. Die
Steinmänner in ihren Felsenburgen, gleichsam selbst noch umwetterte Fels¬
kuppen in der Ebne wurzelnd, und der mit seinem Roß verwachsene, das Ge¬
birge durchziehende Raubritter, der wie ein tosender Gebirgsstrom in Horden
zu Thale stürzt, gerathen aneinander. Sie kämpfen wie Thiere des Waldes
gegen einander: entwurzelte Fichtenstämme und riesige Felsblöcke, wie Erd¬
beben und Überschwemmung sie fordern, sind auch ihre Waffen, bis The-
seus, der Heros des staatenbildenden Geistes, Frieden und Ordnung
schafft.

So hatten nach einiger Beruhigung der elementarischen Mächte Menschen
von dämonischer Leidenschaft und Kraft mit einander um den Besitz der für
das ganze Geschlecht besiegten Erde gestritten. Völkermassen hatten sich über
andre gestürzt, von Norden nach Süden, von Osten nach Westen und wieder
zurück. Raub- und Rachezüge größeren und kleineren Umfangs hatten Be¬
stehendes umgewühlt und verschoben, Burgen und Städte waren gegründet
und zerstört, Geschlechter erstanden und versunken, Schichten fortschreitender
Cultur hatten sich übereinander gelagert; allmählig stellten sich mildere Em¬
pfindungen und freundlichere Bilder der Gegenwart ein, vorder die stürmische
Vergangenheit nun eben in den Nebel jener märchenhaften Vorstellungen zu¬
rücktrat.

Ansiedler von mannigfachen Landschaften des jenseitigen Festlandes be¬
völkerten die Inseln des Meeres und die Küste Asiens: ein muntres, kampf¬
lustiges, aber noch lebensfroheres Volk, das gern der verlassenen Heimath, des
Ruhmes der Ahnen gedachte. In den gastlichen Sälen der Herren war der
göttliche Sänger gern gesehen, dessen von der Muse begeistertes Gedächtniß
die Thaten der Helden in einem Schatz von Liedern bewahrte, die, in strengen
Kunstschulen nach einander geschaffen, allmählig Zusammenhang und innern
Bezug gewannen. Immer das neuste war am willkommensten; sonst wählte
der gefällige Rhapsode gern aus, was seine Zuhörer nach ihren Erinnerungen
und Beziehungen am herzlichsten bewegen konnte.

Da lag vor den Augen des ionischen Sängers das in die Wolken


sie Sicilien über den Kopf und begräbt ihn unter der Masse. Einen Andern
verfolgt Poseidon durch das Meer, reißt ein Stück der Insel Kos ab und
bedeckt ihn damit. Andre trifft Apollo, der Lichtgott, mit seinem Bogen.
Den Ausschlag aber giebt nach dem Schicksalsspruch ein Sterblicher, des Zeus
Sohn Herakles, die unermüdliche Arbeit menschlicher Cultur, die mit
zähester Ausdauer und unwiderstehlichem Willen Herr über die Erde und ihre
wüsten, trotzigen Ausgeburten wird. Seine Pfeile machen den schon verwun¬
deten Rebellen vollends den Garaus.

Und noch enger beschränkt, schon in die Anfänge menschlicher Staaten¬
bildung hineinragend, ist der Kampf der Lapithen und Kentauren. Die
Steinmänner in ihren Felsenburgen, gleichsam selbst noch umwetterte Fels¬
kuppen in der Ebne wurzelnd, und der mit seinem Roß verwachsene, das Ge¬
birge durchziehende Raubritter, der wie ein tosender Gebirgsstrom in Horden
zu Thale stürzt, gerathen aneinander. Sie kämpfen wie Thiere des Waldes
gegen einander: entwurzelte Fichtenstämme und riesige Felsblöcke, wie Erd¬
beben und Überschwemmung sie fordern, sind auch ihre Waffen, bis The-
seus, der Heros des staatenbildenden Geistes, Frieden und Ordnung
schafft.

So hatten nach einiger Beruhigung der elementarischen Mächte Menschen
von dämonischer Leidenschaft und Kraft mit einander um den Besitz der für
das ganze Geschlecht besiegten Erde gestritten. Völkermassen hatten sich über
andre gestürzt, von Norden nach Süden, von Osten nach Westen und wieder
zurück. Raub- und Rachezüge größeren und kleineren Umfangs hatten Be¬
stehendes umgewühlt und verschoben, Burgen und Städte waren gegründet
und zerstört, Geschlechter erstanden und versunken, Schichten fortschreitender
Cultur hatten sich übereinander gelagert; allmählig stellten sich mildere Em¬
pfindungen und freundlichere Bilder der Gegenwart ein, vorder die stürmische
Vergangenheit nun eben in den Nebel jener märchenhaften Vorstellungen zu¬
rücktrat.

Ansiedler von mannigfachen Landschaften des jenseitigen Festlandes be¬
völkerten die Inseln des Meeres und die Küste Asiens: ein muntres, kampf¬
lustiges, aber noch lebensfroheres Volk, das gern der verlassenen Heimath, des
Ruhmes der Ahnen gedachte. In den gastlichen Sälen der Herren war der
göttliche Sänger gern gesehen, dessen von der Muse begeistertes Gedächtniß
die Thaten der Helden in einem Schatz von Liedern bewahrte, die, in strengen
Kunstschulen nach einander geschaffen, allmählig Zusammenhang und innern
Bezug gewannen. Immer das neuste war am willkommensten; sonst wählte
der gefällige Rhapsode gern aus, was seine Zuhörer nach ihren Erinnerungen
und Beziehungen am herzlichsten bewegen konnte.

Da lag vor den Augen des ionischen Sängers das in die Wolken


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/336>, abgerufen am 29.06.2024.