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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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Michel, braucht sich nicht zu schämen, nach dem ritterlichen Erzengel genannt
zu werden, der für uns zugleich eine Phase des großen Wodan ist, und der
dem Volke vielleicht grade deshalb so lieb wurde, weil der semitische Name
"Michael" genau zusammen klingt mit dem altdeutschen Wort "michel",
welches so viel wie "groß, vollkräftig und stark" bedeutet.

Der Ernte des Korns folgt im Spätherbste die Ernte des Wildes,
die eigentliche Jagdzeit, deren Vorsteher, Patron und Schutzheiliger, an
Wodans des großen Himmelsjägers Stelle Se. Huber tus geworden ist,
jener "Hut-bertus, d. h. Hut-träger, der sich in seinen vornehmsten Attributen,
wie in seinen Funktionen als ganz unmittelbar aus Wodansvorstellungen
abgeleitet erweist. Und zwar nimmt Hubertus eine besonders interessante
Stellung als Kalender-Heiliger ein. Nicht ohne Absicht ist nämlich sein Fest
zu Beginn des Novembers gesetzt, dessen uraltes Kalender-Monatszeichen be¬
kanntlich der "Kentaure"*), Chiron der Schütze ist, jener Schütz nämlich,


Avr dein die Sonne flieht,
Der uns ihr fernes Angesicht
Mit Wolken überzieht.

Ein solcher Schütze ist aber der Herbst. Schon die Brahmanas der
Veden bringen die Sage, daß auf Parjapati, den Sonnenherrn, Rudra, das
heranziehende Novcmbergewölk, einen tödtlichen Pfeil geschossen habe. Ganz
dieselbe Sage vom Schuß in die Sonne gilt aber auch vom wilden Jäger,
vom Herbst-Wodan, der sich somit als derselbe November-Schütze darstellt.
Daß dieser "Schütze" allezeit beritten gedacht wurde, und also auch in
dieser Hinsicht dem Wodan entspricht, beweist seine Kentaurengestalt, derent¬
wegen ihn die Alten auch "Hippotes" oder "Eques" nannten; und daher
wird denn auch der Jagdheilige, der im christlichen Kalender an der Pforte
des November steht, nämlich eben Se. Hubertus, von Malern und Bildnern
stets mit dem Roß und zwar mit einem Schimmel, mit Wodans stolzem
Sleipnir dargestellt, selbst wenn er, der bekannten Legende gemäß, als be¬
kehrter wilder Jäger vor dem cruzifirtragenden Hirsche kniet.

Die Hubertuslegende ist indessen überhaupt nur eine Abwandlung der
großen gewaltigen Sage von der wilden Jagd, in welcher die eigen¬
thümliche Gestalt Wodans, des Sturmgottes, am meisten und un¬
mittelbarsten aufbewahrt geblieben. Denn nachdem der Jahrgott mit dem



") Der Kentaure ist in griechischer Mythologie ein Wasser- und Regen-Symbol: Schütze
und Kentaure decken sich. Im orientalischen Zodiacus tritt an Stelle des Schützen das Noß,
und dies wird in orientalischen wie klassischen Sagen durch diese Stellung oft geradezu zum
Symbol des Winters im Gegensatz zu dem, den Sommer bedeutenden Löwen. Man erinnere
5es hier auch, daß die Römer zur Zeit der Herbstgleiche dem Mars (Se. Martin) ein Noß
opferten, und daß um dieselbe Zeit die Pallas-Hippia im Roßqncll badete.

Michel, braucht sich nicht zu schämen, nach dem ritterlichen Erzengel genannt
zu werden, der für uns zugleich eine Phase des großen Wodan ist, und der
dem Volke vielleicht grade deshalb so lieb wurde, weil der semitische Name
„Michael" genau zusammen klingt mit dem altdeutschen Wort „michel",
welches so viel wie „groß, vollkräftig und stark" bedeutet.

Der Ernte des Korns folgt im Spätherbste die Ernte des Wildes,
die eigentliche Jagdzeit, deren Vorsteher, Patron und Schutzheiliger, an
Wodans des großen Himmelsjägers Stelle Se. Huber tus geworden ist,
jener „Hut-bertus, d. h. Hut-träger, der sich in seinen vornehmsten Attributen,
wie in seinen Funktionen als ganz unmittelbar aus Wodansvorstellungen
abgeleitet erweist. Und zwar nimmt Hubertus eine besonders interessante
Stellung als Kalender-Heiliger ein. Nicht ohne Absicht ist nämlich sein Fest
zu Beginn des Novembers gesetzt, dessen uraltes Kalender-Monatszeichen be¬
kanntlich der „Kentaure"*), Chiron der Schütze ist, jener Schütz nämlich,


Avr dein die Sonne flieht,
Der uns ihr fernes Angesicht
Mit Wolken überzieht.

Ein solcher Schütze ist aber der Herbst. Schon die Brahmanas der
Veden bringen die Sage, daß auf Parjapati, den Sonnenherrn, Rudra, das
heranziehende Novcmbergewölk, einen tödtlichen Pfeil geschossen habe. Ganz
dieselbe Sage vom Schuß in die Sonne gilt aber auch vom wilden Jäger,
vom Herbst-Wodan, der sich somit als derselbe November-Schütze darstellt.
Daß dieser „Schütze" allezeit beritten gedacht wurde, und also auch in
dieser Hinsicht dem Wodan entspricht, beweist seine Kentaurengestalt, derent¬
wegen ihn die Alten auch „Hippotes" oder „Eques" nannten; und daher
wird denn auch der Jagdheilige, der im christlichen Kalender an der Pforte
des November steht, nämlich eben Se. Hubertus, von Malern und Bildnern
stets mit dem Roß und zwar mit einem Schimmel, mit Wodans stolzem
Sleipnir dargestellt, selbst wenn er, der bekannten Legende gemäß, als be¬
kehrter wilder Jäger vor dem cruzifirtragenden Hirsche kniet.

Die Hubertuslegende ist indessen überhaupt nur eine Abwandlung der
großen gewaltigen Sage von der wilden Jagd, in welcher die eigen¬
thümliche Gestalt Wodans, des Sturmgottes, am meisten und un¬
mittelbarsten aufbewahrt geblieben. Denn nachdem der Jahrgott mit dem



") Der Kentaure ist in griechischer Mythologie ein Wasser- und Regen-Symbol: Schütze
und Kentaure decken sich. Im orientalischen Zodiacus tritt an Stelle des Schützen das Noß,
und dies wird in orientalischen wie klassischen Sagen durch diese Stellung oft geradezu zum
Symbol des Winters im Gegensatz zu dem, den Sommer bedeutenden Löwen. Man erinnere
5es hier auch, daß die Römer zur Zeit der Herbstgleiche dem Mars (Se. Martin) ein Noß
opferten, und daß um dieselbe Zeit die Pallas-Hippia im Roßqncll badete.
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[0305] Michel, braucht sich nicht zu schämen, nach dem ritterlichen Erzengel genannt zu werden, der für uns zugleich eine Phase des großen Wodan ist, und der dem Volke vielleicht grade deshalb so lieb wurde, weil der semitische Name „Michael" genau zusammen klingt mit dem altdeutschen Wort „michel", welches so viel wie „groß, vollkräftig und stark" bedeutet. Der Ernte des Korns folgt im Spätherbste die Ernte des Wildes, die eigentliche Jagdzeit, deren Vorsteher, Patron und Schutzheiliger, an Wodans des großen Himmelsjägers Stelle Se. Huber tus geworden ist, jener „Hut-bertus, d. h. Hut-träger, der sich in seinen vornehmsten Attributen, wie in seinen Funktionen als ganz unmittelbar aus Wodansvorstellungen abgeleitet erweist. Und zwar nimmt Hubertus eine besonders interessante Stellung als Kalender-Heiliger ein. Nicht ohne Absicht ist nämlich sein Fest zu Beginn des Novembers gesetzt, dessen uraltes Kalender-Monatszeichen be¬ kanntlich der „Kentaure"*), Chiron der Schütze ist, jener Schütz nämlich, Avr dein die Sonne flieht, Der uns ihr fernes Angesicht Mit Wolken überzieht. Ein solcher Schütze ist aber der Herbst. Schon die Brahmanas der Veden bringen die Sage, daß auf Parjapati, den Sonnenherrn, Rudra, das heranziehende Novcmbergewölk, einen tödtlichen Pfeil geschossen habe. Ganz dieselbe Sage vom Schuß in die Sonne gilt aber auch vom wilden Jäger, vom Herbst-Wodan, der sich somit als derselbe November-Schütze darstellt. Daß dieser „Schütze" allezeit beritten gedacht wurde, und also auch in dieser Hinsicht dem Wodan entspricht, beweist seine Kentaurengestalt, derent¬ wegen ihn die Alten auch „Hippotes" oder „Eques" nannten; und daher wird denn auch der Jagdheilige, der im christlichen Kalender an der Pforte des November steht, nämlich eben Se. Hubertus, von Malern und Bildnern stets mit dem Roß und zwar mit einem Schimmel, mit Wodans stolzem Sleipnir dargestellt, selbst wenn er, der bekannten Legende gemäß, als be¬ kehrter wilder Jäger vor dem cruzifirtragenden Hirsche kniet. Die Hubertuslegende ist indessen überhaupt nur eine Abwandlung der großen gewaltigen Sage von der wilden Jagd, in welcher die eigen¬ thümliche Gestalt Wodans, des Sturmgottes, am meisten und un¬ mittelbarsten aufbewahrt geblieben. Denn nachdem der Jahrgott mit dem ") Der Kentaure ist in griechischer Mythologie ein Wasser- und Regen-Symbol: Schütze und Kentaure decken sich. Im orientalischen Zodiacus tritt an Stelle des Schützen das Noß, und dies wird in orientalischen wie klassischen Sagen durch diese Stellung oft geradezu zum Symbol des Winters im Gegensatz zu dem, den Sommer bedeutenden Löwen. Man erinnere 5es hier auch, daß die Römer zur Zeit der Herbstgleiche dem Mars (Se. Martin) ein Noß opferten, und daß um dieselbe Zeit die Pallas-Hippia im Roßqncll badete.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/305>, abgerufen am 28.09.2024.