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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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Auch Wettrennen der Bauern erscheinen, wie bei allen Wodansfesten, zu
Michaeli und haben sich namentlich in dem altsächsischen Mittellande (bei
Halberstadt u, a. O>) als "Fahnenreiten" fröhlichen Ruf erworben. -- Der
helle Schall dieser Feste muß bis über die deutsche Grenze geklungen sein;
denn eben der heilige Schimmelreiter Michael, welcher zugleich als Erntegott
erschien, der ist es ja wohl, dem das deutsche Volk den Scherznamen "deut¬
scher Michel" verdankt. --

Der fröhliche Jubel der Ernte ist aber nur eine Seite des Herbst-
characters; das vornehmste Herbstsymbol ist doch die Sense, die zugleich das
Attribut des Todes ist. Das Jahr stirbt im Herbst; mit ihm wird der
Jahrgott Wodan zum Geleiter in die Unterwelt; er stellt sich an
die Spitze des wüthenden Heeres der Herbststürme, und führet das Jahr, führt
die Seelen der Menschen hinab unter die Schneedecke des Winters und in
den Grabhügel. Darum glaubt man in Süddeutschland, daß "das Wütische
Heer", das Wuotansheer aus den Seelen der Abgeschiedenen bestehe,
die in langem Zuge mit dem Herbststürme durch die Lüfte zögen. "Wenn
dieses Heer naht, so vernimmt man zuerst leisen Gesang, .den Harfentöne
begleiten: süß schaurig, daß es den Hörer bis in des Herzens Tiefen durch¬
bebt. Das Gras der Matten, das Laub des Forstes wogt und neigt sich
im Mondenschein, sobald die Töne nur ansetzen. Dann zieht es nah und
näher, wie eine ungeheure Musik von tausend Instrumenten, und endlich
bricht der rasende Orkan los, so daß krachend selbst des Waldes stärkste Eichen
brechen. An der Spitze dieses Heeres aber zieht der Herbst-Wodan als Psy-
chopompos, als Seelenführer. Er steht hier also genau in derselben Stelle,
welche bei den Gräko-Jtalern der seelenführende Hermes-Merkur einnahm;
und das war gewiß auch einer der Hauptgründe, um derentwillen die von
Germanien redenden Römer den Wodan mit ihrem Merkur-indentifizirten.
Auch dies Hermes-Amt Wodans ist auf den heiligen Michael übergegangen,
und der ritterliche Heilige leitete nach dem Glauben des ganzen Mittelalters
die Seelen der gefallenen Helden in den Himmel. Darum ist in der un¬
garischen Volkssprache z. B. der Ausdruck für die Todtenbahre allgemein:
"Meißel lova.", d. i. Michaelspferd; vom tödtlich Erkrankten heißt es: "des
heiligen Michael Pferd hat ihn geschlagen", und eben darum wird Michael
"Fürst der Seelen", "Fahnenträger der himmlischen Heerschaaren" und nament¬
lich auch "vux" genannt. Eine altberühmte lateinische Hymne beginnt:


"0 in^gnas Iisros Aloi'iaiz
vux Niolmsl!
?i'ont"t,or sis Koi'MMiao! "

In der That war das Bild des heiligen Michael stets das Schildzeichen der
Reichsheer-Fahne deutscher Nation. Nun, unser Volk, der deutsche


Auch Wettrennen der Bauern erscheinen, wie bei allen Wodansfesten, zu
Michaeli und haben sich namentlich in dem altsächsischen Mittellande (bei
Halberstadt u, a. O>) als „Fahnenreiten" fröhlichen Ruf erworben. — Der
helle Schall dieser Feste muß bis über die deutsche Grenze geklungen sein;
denn eben der heilige Schimmelreiter Michael, welcher zugleich als Erntegott
erschien, der ist es ja wohl, dem das deutsche Volk den Scherznamen „deut¬
scher Michel" verdankt. —

Der fröhliche Jubel der Ernte ist aber nur eine Seite des Herbst-
characters; das vornehmste Herbstsymbol ist doch die Sense, die zugleich das
Attribut des Todes ist. Das Jahr stirbt im Herbst; mit ihm wird der
Jahrgott Wodan zum Geleiter in die Unterwelt; er stellt sich an
die Spitze des wüthenden Heeres der Herbststürme, und führet das Jahr, führt
die Seelen der Menschen hinab unter die Schneedecke des Winters und in
den Grabhügel. Darum glaubt man in Süddeutschland, daß „das Wütische
Heer", das Wuotansheer aus den Seelen der Abgeschiedenen bestehe,
die in langem Zuge mit dem Herbststürme durch die Lüfte zögen. „Wenn
dieses Heer naht, so vernimmt man zuerst leisen Gesang, .den Harfentöne
begleiten: süß schaurig, daß es den Hörer bis in des Herzens Tiefen durch¬
bebt. Das Gras der Matten, das Laub des Forstes wogt und neigt sich
im Mondenschein, sobald die Töne nur ansetzen. Dann zieht es nah und
näher, wie eine ungeheure Musik von tausend Instrumenten, und endlich
bricht der rasende Orkan los, so daß krachend selbst des Waldes stärkste Eichen
brechen. An der Spitze dieses Heeres aber zieht der Herbst-Wodan als Psy-
chopompos, als Seelenführer. Er steht hier also genau in derselben Stelle,
welche bei den Gräko-Jtalern der seelenführende Hermes-Merkur einnahm;
und das war gewiß auch einer der Hauptgründe, um derentwillen die von
Germanien redenden Römer den Wodan mit ihrem Merkur-indentifizirten.
Auch dies Hermes-Amt Wodans ist auf den heiligen Michael übergegangen,
und der ritterliche Heilige leitete nach dem Glauben des ganzen Mittelalters
die Seelen der gefallenen Helden in den Himmel. Darum ist in der un¬
garischen Volkssprache z. B. der Ausdruck für die Todtenbahre allgemein:
„Meißel lova.", d. i. Michaelspferd; vom tödtlich Erkrankten heißt es: „des
heiligen Michael Pferd hat ihn geschlagen", und eben darum wird Michael
„Fürst der Seelen", „Fahnenträger der himmlischen Heerschaaren" und nament¬
lich auch „vux" genannt. Eine altberühmte lateinische Hymne beginnt:


„0 in^gnas Iisros Aloi'iaiz
vux Niolmsl!
?i'ont«t,or sis Koi'MMiao! "

In der That war das Bild des heiligen Michael stets das Schildzeichen der
Reichsheer-Fahne deutscher Nation. Nun, unser Volk, der deutsche


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[0304] Auch Wettrennen der Bauern erscheinen, wie bei allen Wodansfesten, zu Michaeli und haben sich namentlich in dem altsächsischen Mittellande (bei Halberstadt u, a. O>) als „Fahnenreiten" fröhlichen Ruf erworben. — Der helle Schall dieser Feste muß bis über die deutsche Grenze geklungen sein; denn eben der heilige Schimmelreiter Michael, welcher zugleich als Erntegott erschien, der ist es ja wohl, dem das deutsche Volk den Scherznamen „deut¬ scher Michel" verdankt. — Der fröhliche Jubel der Ernte ist aber nur eine Seite des Herbst- characters; das vornehmste Herbstsymbol ist doch die Sense, die zugleich das Attribut des Todes ist. Das Jahr stirbt im Herbst; mit ihm wird der Jahrgott Wodan zum Geleiter in die Unterwelt; er stellt sich an die Spitze des wüthenden Heeres der Herbststürme, und führet das Jahr, führt die Seelen der Menschen hinab unter die Schneedecke des Winters und in den Grabhügel. Darum glaubt man in Süddeutschland, daß „das Wütische Heer", das Wuotansheer aus den Seelen der Abgeschiedenen bestehe, die in langem Zuge mit dem Herbststürme durch die Lüfte zögen. „Wenn dieses Heer naht, so vernimmt man zuerst leisen Gesang, .den Harfentöne begleiten: süß schaurig, daß es den Hörer bis in des Herzens Tiefen durch¬ bebt. Das Gras der Matten, das Laub des Forstes wogt und neigt sich im Mondenschein, sobald die Töne nur ansetzen. Dann zieht es nah und näher, wie eine ungeheure Musik von tausend Instrumenten, und endlich bricht der rasende Orkan los, so daß krachend selbst des Waldes stärkste Eichen brechen. An der Spitze dieses Heeres aber zieht der Herbst-Wodan als Psy- chopompos, als Seelenführer. Er steht hier also genau in derselben Stelle, welche bei den Gräko-Jtalern der seelenführende Hermes-Merkur einnahm; und das war gewiß auch einer der Hauptgründe, um derentwillen die von Germanien redenden Römer den Wodan mit ihrem Merkur-indentifizirten. Auch dies Hermes-Amt Wodans ist auf den heiligen Michael übergegangen, und der ritterliche Heilige leitete nach dem Glauben des ganzen Mittelalters die Seelen der gefallenen Helden in den Himmel. Darum ist in der un¬ garischen Volkssprache z. B. der Ausdruck für die Todtenbahre allgemein: „Meißel lova.", d. i. Michaelspferd; vom tödtlich Erkrankten heißt es: „des heiligen Michael Pferd hat ihn geschlagen", und eben darum wird Michael „Fürst der Seelen", „Fahnenträger der himmlischen Heerschaaren" und nament¬ lich auch „vux" genannt. Eine altberühmte lateinische Hymne beginnt: „0 in^gnas Iisros Aloi'iaiz vux Niolmsl! ?i'ont«t,or sis Koi'MMiao! " In der That war das Bild des heiligen Michael stets das Schildzeichen der Reichsheer-Fahne deutscher Nation. Nun, unser Volk, der deutsche

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/304>, abgerufen am 28.09.2024.