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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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Entwicklung jder Verfassungszustande. Die Reichsverfassung, so complicirt
dieselbe im Augenblick auch erscheinen mag, wird die ihr noch mangelnde Ein¬
heit und Gleichförmigkeit weit rascher und sicherer auf dem Weg der Ver¬
fassungsreform in den Einzelstaaten als durch etwaige Competenzerweiterung des
Reichstags und der Reichsregierung erlangen. Die Nothwendigkeit, den kost¬
spieligen und verwickelten Staatsapparat zu vereinfachen, wird im Süden
wenigstens schon jetzt als eine der nächsten Aufgaben der Zukunft angesehen.
Die Abschaffung des Zweikammersystems insbesondere, welche, so lange
Württemberg auf sich selbst gestellt, ein Spielball der extremsten Parteien zu
werden drohte, mit den größten politischen Bedenken verknüpft war, ist jetzt
erst, nachdem die berechtigten conservativen Interessen ihren festen Rückhalt
im deutschen Reich gefunden haben, in das Stadium der praktischen Discussion
getreten. Ebenso wird die Verminderung der gegenwärtig vorhandenen 6--7
Ministerien, ferner die Abschaffung der besondern diplomatischen Vertretungen
schon mit Rücksicht auf die nothwendigen Ersparungen im Staatshaushalt
in kürzester Zeit der Gegenstand erregter Debatten werden. Die Folgen
dieser Entwicklung für das Reich ergeben sich dann von selbst.

In Württemberg hat die Ständekammer bereits bei der Genehmigung
der Verträge einen hierauf abzielenden Wunsch gegen die Regierung ausge¬
sprochen, und letztere sieht mit Sorgen der nächsten Etatsberathung entgegen,
welche einen erheblichen Theil der in Versailles erzielten Sonderstellung aus
finanziellen Rücksichten mit dem Untergang bedrohen.

Die nationale Partei wird denn auch nicht anstehen, die Consequenzen
der.neuen politischen Situation zu ziehen. Ob sie aber schon in nächster Zeit
Erfolge in dieser Richtung erringen wird, hängt wesentlich davon ab, wie sich
die der Mehrzahl nach nationalgesinnten Privilegirten in der Kammer zu dieser
Frage verhalten werden, eventuell davon, ob die Demokratie auch fernerhin
in ihrer particularistischen Stellung verharren, oder sich künftig auf den Boden
der Thatsachen stellen wird.

Von der Abstimmung über die Verfassungsverträge abgesehen, bot sich
bis jetzt nur zweimal Gelegenheit dar, das Stimmenverhältniß der verschiedenen
Parteien, insbesondere des sogenannten Negierungsklubs und der Privilegirten,
in der neuen Kammer kennen zu lernen. Zuerst bei der Präsidentenwahl, wo
von Seiten der Regierungsanhänger dem von der "deutschen Partei" vorge-
schlagenen Obertribunalrath Weber, der vor dem Jahr 1868 Präsident der
Kammer gewesen, mit großer Hartnäckigkeit der Oberbürgermeister v. Sick,
ein Mann der Hof. und Residenz-Politik, entgegengestellt wurde. Obgleich
die Demokratie für den Candidaten des Hofes stimmte, konnte doch letzterer
nur 33 Stimmen auf sich vereinigen, gegen 60, mit welchen Weber als Erster
auf die Liste der Vorgeschlagenen gesetzt wurde. Das ist ein Beweis, daß


Entwicklung jder Verfassungszustande. Die Reichsverfassung, so complicirt
dieselbe im Augenblick auch erscheinen mag, wird die ihr noch mangelnde Ein¬
heit und Gleichförmigkeit weit rascher und sicherer auf dem Weg der Ver¬
fassungsreform in den Einzelstaaten als durch etwaige Competenzerweiterung des
Reichstags und der Reichsregierung erlangen. Die Nothwendigkeit, den kost¬
spieligen und verwickelten Staatsapparat zu vereinfachen, wird im Süden
wenigstens schon jetzt als eine der nächsten Aufgaben der Zukunft angesehen.
Die Abschaffung des Zweikammersystems insbesondere, welche, so lange
Württemberg auf sich selbst gestellt, ein Spielball der extremsten Parteien zu
werden drohte, mit den größten politischen Bedenken verknüpft war, ist jetzt
erst, nachdem die berechtigten conservativen Interessen ihren festen Rückhalt
im deutschen Reich gefunden haben, in das Stadium der praktischen Discussion
getreten. Ebenso wird die Verminderung der gegenwärtig vorhandenen 6—7
Ministerien, ferner die Abschaffung der besondern diplomatischen Vertretungen
schon mit Rücksicht auf die nothwendigen Ersparungen im Staatshaushalt
in kürzester Zeit der Gegenstand erregter Debatten werden. Die Folgen
dieser Entwicklung für das Reich ergeben sich dann von selbst.

In Württemberg hat die Ständekammer bereits bei der Genehmigung
der Verträge einen hierauf abzielenden Wunsch gegen die Regierung ausge¬
sprochen, und letztere sieht mit Sorgen der nächsten Etatsberathung entgegen,
welche einen erheblichen Theil der in Versailles erzielten Sonderstellung aus
finanziellen Rücksichten mit dem Untergang bedrohen.

Die nationale Partei wird denn auch nicht anstehen, die Consequenzen
der.neuen politischen Situation zu ziehen. Ob sie aber schon in nächster Zeit
Erfolge in dieser Richtung erringen wird, hängt wesentlich davon ab, wie sich
die der Mehrzahl nach nationalgesinnten Privilegirten in der Kammer zu dieser
Frage verhalten werden, eventuell davon, ob die Demokratie auch fernerhin
in ihrer particularistischen Stellung verharren, oder sich künftig auf den Boden
der Thatsachen stellen wird.

Von der Abstimmung über die Verfassungsverträge abgesehen, bot sich
bis jetzt nur zweimal Gelegenheit dar, das Stimmenverhältniß der verschiedenen
Parteien, insbesondere des sogenannten Negierungsklubs und der Privilegirten,
in der neuen Kammer kennen zu lernen. Zuerst bei der Präsidentenwahl, wo
von Seiten der Regierungsanhänger dem von der „deutschen Partei" vorge-
schlagenen Obertribunalrath Weber, der vor dem Jahr 1868 Präsident der
Kammer gewesen, mit großer Hartnäckigkeit der Oberbürgermeister v. Sick,
ein Mann der Hof. und Residenz-Politik, entgegengestellt wurde. Obgleich
die Demokratie für den Candidaten des Hofes stimmte, konnte doch letzterer
nur 33 Stimmen auf sich vereinigen, gegen 60, mit welchen Weber als Erster
auf die Liste der Vorgeschlagenen gesetzt wurde. Das ist ein Beweis, daß


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[0286] Entwicklung jder Verfassungszustande. Die Reichsverfassung, so complicirt dieselbe im Augenblick auch erscheinen mag, wird die ihr noch mangelnde Ein¬ heit und Gleichförmigkeit weit rascher und sicherer auf dem Weg der Ver¬ fassungsreform in den Einzelstaaten als durch etwaige Competenzerweiterung des Reichstags und der Reichsregierung erlangen. Die Nothwendigkeit, den kost¬ spieligen und verwickelten Staatsapparat zu vereinfachen, wird im Süden wenigstens schon jetzt als eine der nächsten Aufgaben der Zukunft angesehen. Die Abschaffung des Zweikammersystems insbesondere, welche, so lange Württemberg auf sich selbst gestellt, ein Spielball der extremsten Parteien zu werden drohte, mit den größten politischen Bedenken verknüpft war, ist jetzt erst, nachdem die berechtigten conservativen Interessen ihren festen Rückhalt im deutschen Reich gefunden haben, in das Stadium der praktischen Discussion getreten. Ebenso wird die Verminderung der gegenwärtig vorhandenen 6—7 Ministerien, ferner die Abschaffung der besondern diplomatischen Vertretungen schon mit Rücksicht auf die nothwendigen Ersparungen im Staatshaushalt in kürzester Zeit der Gegenstand erregter Debatten werden. Die Folgen dieser Entwicklung für das Reich ergeben sich dann von selbst. In Württemberg hat die Ständekammer bereits bei der Genehmigung der Verträge einen hierauf abzielenden Wunsch gegen die Regierung ausge¬ sprochen, und letztere sieht mit Sorgen der nächsten Etatsberathung entgegen, welche einen erheblichen Theil der in Versailles erzielten Sonderstellung aus finanziellen Rücksichten mit dem Untergang bedrohen. Die nationale Partei wird denn auch nicht anstehen, die Consequenzen der.neuen politischen Situation zu ziehen. Ob sie aber schon in nächster Zeit Erfolge in dieser Richtung erringen wird, hängt wesentlich davon ab, wie sich die der Mehrzahl nach nationalgesinnten Privilegirten in der Kammer zu dieser Frage verhalten werden, eventuell davon, ob die Demokratie auch fernerhin in ihrer particularistischen Stellung verharren, oder sich künftig auf den Boden der Thatsachen stellen wird. Von der Abstimmung über die Verfassungsverträge abgesehen, bot sich bis jetzt nur zweimal Gelegenheit dar, das Stimmenverhältniß der verschiedenen Parteien, insbesondere des sogenannten Negierungsklubs und der Privilegirten, in der neuen Kammer kennen zu lernen. Zuerst bei der Präsidentenwahl, wo von Seiten der Regierungsanhänger dem von der „deutschen Partei" vorge- schlagenen Obertribunalrath Weber, der vor dem Jahr 1868 Präsident der Kammer gewesen, mit großer Hartnäckigkeit der Oberbürgermeister v. Sick, ein Mann der Hof. und Residenz-Politik, entgegengestellt wurde. Obgleich die Demokratie für den Candidaten des Hofes stimmte, konnte doch letzterer nur 33 Stimmen auf sich vereinigen, gegen 60, mit welchen Weber als Erster auf die Liste der Vorgeschlagenen gesetzt wurde. Das ist ein Beweis, daß

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/286>, abgerufen am 26.06.2024.