Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

den katholischen Theologen Kühn, den Fürsten von Oe. Wall erste in, und
den aus dem Zollparlament bekannten Freiherrn von Neurath. Der letztere
glaubte dem Ministerium den verdeckten Borwurf machen zu müssen, daß es
den König über die Gefahren, welche durch den neuen Rechtszustand für den
Thron entstehen können, nicht aufgeklärt habe, indem er zugleich auf die Rechte
der Agnaten hinwies. Ihm wurde jedoch von dem Berichterstatter, dem
früheren Minister von Linden, der mit großer Wärme das neue deutsche
Reich als den einzigen und sichersten Schutz der württembergischen Krone be¬
zeichnete, sofort entgegengetreten, der persönliche Vorwurf gegen das Ministerium
aber von Herrn von Mittnacht, dem Nachfolger Neuraths im Portefeuille der
Justiz, mit Entrüstung zurückgewiesen. Die in der Kammer vertretenen Agnaten
dagegen widerlegten den "getreuen Eckart des königl. Hauses" durch ihre ein¬
stimmige Genehmigung der Verträge. Diese Abstimmung lieferte zugleich den
immerhin bedeutsamen Beweis, daß der oberschwäbische hohe Adel, welcher bis
dahin eine der stärksten Stützen der sogenannten großdeutschen Partei ge¬
bildet hatte, bereits seine Blicke der neu aufgehenden Sonne des deutschen
Kaiserthums zuzuwenden beginnt.

Der hiermit vollzogene Eintritt in das deutsche Reich involvirt, wenn man
es auch von Seiten der Negierung nicht zugibt, und selbst die nationalen
Organe es nur schüchtern einräumen, eine sehr weit reichende Beschränkung der
Souveränität deswürttembergischenStaates, mit andern Worten eineArt vonMe-
diatisirung desselben. Wir begrüßen hierin den segensreichsten Fortschritt, welchen
die schwäbische Geschichte im Laufe dieses Jahrhunderts gemacht hat, und er¬
kennen in ihr das einzige Mittel, unseren Staat, der seit Jahren in Folge der
immer mehr um sich greifenden Absonderung auf allen Gebieten des Lebens
einer völligen Versumpfung entgegenging, durch die Ausnahme in ein größeres
Ganzes und Zuleitung neuer Lebenskräfte zu regeneriren. Die theilweise
Sonderstellung, welche Württemberg durch die Verträge im Vergleich zu den
Nordbundstaaten noch gewährt ist, kommt für uns nicht in Betracht, denn
mit Sicherheit läßt sich voraussagen, daß diese Besonderheiten im Laufe
weniger Jahre und zwar nicht durch das Eingreifen des Reichs, sondern durch
die Entwickelung der Dinge in Schwaben selbst, über Bord geworfen sein werden.

Wir glauben überhaupt mit Grund annehmen zu dürfen, daß in der näch¬
sten Zeit der Schwerpunkt der politischen Bewegung weit mehr in die Einzel¬
staaten fallen wird, als man dies gewöhnlich annimmt. Zwar das allgemeine
Interesse wird sich vorherrschend im Reichstag concentriren, wo künftighin allein
die Fragen der hohen Politik und diejenigen Aufgaben der Gesetzgebung ihre Er¬
ledigung finden werden, welche vorzugsweise die Aufmerksamkeit der sogenannten
politischen Kreise zu erwecken geeignet sind, wie Presse, Bereinsrecht, Militärein¬
richtungen ?c. Ganz anders verhält es sich dagegen hinsichtlich der ferneren


Gr-Njwtm I. l87I. 36

den katholischen Theologen Kühn, den Fürsten von Oe. Wall erste in, und
den aus dem Zollparlament bekannten Freiherrn von Neurath. Der letztere
glaubte dem Ministerium den verdeckten Borwurf machen zu müssen, daß es
den König über die Gefahren, welche durch den neuen Rechtszustand für den
Thron entstehen können, nicht aufgeklärt habe, indem er zugleich auf die Rechte
der Agnaten hinwies. Ihm wurde jedoch von dem Berichterstatter, dem
früheren Minister von Linden, der mit großer Wärme das neue deutsche
Reich als den einzigen und sichersten Schutz der württembergischen Krone be¬
zeichnete, sofort entgegengetreten, der persönliche Vorwurf gegen das Ministerium
aber von Herrn von Mittnacht, dem Nachfolger Neuraths im Portefeuille der
Justiz, mit Entrüstung zurückgewiesen. Die in der Kammer vertretenen Agnaten
dagegen widerlegten den „getreuen Eckart des königl. Hauses" durch ihre ein¬
stimmige Genehmigung der Verträge. Diese Abstimmung lieferte zugleich den
immerhin bedeutsamen Beweis, daß der oberschwäbische hohe Adel, welcher bis
dahin eine der stärksten Stützen der sogenannten großdeutschen Partei ge¬
bildet hatte, bereits seine Blicke der neu aufgehenden Sonne des deutschen
Kaiserthums zuzuwenden beginnt.

Der hiermit vollzogene Eintritt in das deutsche Reich involvirt, wenn man
es auch von Seiten der Negierung nicht zugibt, und selbst die nationalen
Organe es nur schüchtern einräumen, eine sehr weit reichende Beschränkung der
Souveränität deswürttembergischenStaates, mit andern Worten eineArt vonMe-
diatisirung desselben. Wir begrüßen hierin den segensreichsten Fortschritt, welchen
die schwäbische Geschichte im Laufe dieses Jahrhunderts gemacht hat, und er¬
kennen in ihr das einzige Mittel, unseren Staat, der seit Jahren in Folge der
immer mehr um sich greifenden Absonderung auf allen Gebieten des Lebens
einer völligen Versumpfung entgegenging, durch die Ausnahme in ein größeres
Ganzes und Zuleitung neuer Lebenskräfte zu regeneriren. Die theilweise
Sonderstellung, welche Württemberg durch die Verträge im Vergleich zu den
Nordbundstaaten noch gewährt ist, kommt für uns nicht in Betracht, denn
mit Sicherheit läßt sich voraussagen, daß diese Besonderheiten im Laufe
weniger Jahre und zwar nicht durch das Eingreifen des Reichs, sondern durch
die Entwickelung der Dinge in Schwaben selbst, über Bord geworfen sein werden.

Wir glauben überhaupt mit Grund annehmen zu dürfen, daß in der näch¬
sten Zeit der Schwerpunkt der politischen Bewegung weit mehr in die Einzel¬
staaten fallen wird, als man dies gewöhnlich annimmt. Zwar das allgemeine
Interesse wird sich vorherrschend im Reichstag concentriren, wo künftighin allein
die Fragen der hohen Politik und diejenigen Aufgaben der Gesetzgebung ihre Er¬
ledigung finden werden, welche vorzugsweise die Aufmerksamkeit der sogenannten
politischen Kreise zu erwecken geeignet sind, wie Presse, Bereinsrecht, Militärein¬
richtungen ?c. Ganz anders verhält es sich dagegen hinsichtlich der ferneren


Gr-Njwtm I. l87I. 36
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0285" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/125529"/>
          <p xml:id="ID_1025" prev="#ID_1024"> den katholischen Theologen Kühn, den Fürsten von Oe. Wall erste in, und<lb/>
den aus dem Zollparlament bekannten Freiherrn von Neurath. Der letztere<lb/>
glaubte dem Ministerium den verdeckten Borwurf machen zu müssen, daß es<lb/>
den König über die Gefahren, welche durch den neuen Rechtszustand für den<lb/>
Thron entstehen können, nicht aufgeklärt habe, indem er zugleich auf die Rechte<lb/>
der Agnaten hinwies. Ihm wurde jedoch von dem Berichterstatter, dem<lb/>
früheren Minister von Linden, der mit großer Wärme das neue deutsche<lb/>
Reich als den einzigen und sichersten Schutz der württembergischen Krone be¬<lb/>
zeichnete, sofort entgegengetreten, der persönliche Vorwurf gegen das Ministerium<lb/>
aber von Herrn von Mittnacht, dem Nachfolger Neuraths im Portefeuille der<lb/>
Justiz, mit Entrüstung zurückgewiesen. Die in der Kammer vertretenen Agnaten<lb/>
dagegen widerlegten den &#x201E;getreuen Eckart des königl. Hauses" durch ihre ein¬<lb/>
stimmige Genehmigung der Verträge. Diese Abstimmung lieferte zugleich den<lb/>
immerhin bedeutsamen Beweis, daß der oberschwäbische hohe Adel, welcher bis<lb/>
dahin eine der stärksten Stützen der sogenannten großdeutschen Partei ge¬<lb/>
bildet hatte, bereits seine Blicke der neu aufgehenden Sonne des deutschen<lb/>
Kaiserthums zuzuwenden beginnt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1026"> Der hiermit vollzogene Eintritt in das deutsche Reich involvirt, wenn man<lb/>
es auch von Seiten der Negierung nicht zugibt, und selbst die nationalen<lb/>
Organe es nur schüchtern einräumen, eine sehr weit reichende Beschränkung der<lb/>
Souveränität deswürttembergischenStaates, mit andern Worten eineArt vonMe-<lb/>
diatisirung desselben. Wir begrüßen hierin den segensreichsten Fortschritt, welchen<lb/>
die schwäbische Geschichte im Laufe dieses Jahrhunderts gemacht hat, und er¬<lb/>
kennen in ihr das einzige Mittel, unseren Staat, der seit Jahren in Folge der<lb/>
immer mehr um sich greifenden Absonderung auf allen Gebieten des Lebens<lb/>
einer völligen Versumpfung entgegenging, durch die Ausnahme in ein größeres<lb/>
Ganzes und Zuleitung neuer Lebenskräfte zu regeneriren. Die theilweise<lb/>
Sonderstellung, welche Württemberg durch die Verträge im Vergleich zu den<lb/>
Nordbundstaaten noch gewährt ist, kommt für uns nicht in Betracht, denn<lb/>
mit Sicherheit läßt sich voraussagen, daß diese Besonderheiten im Laufe<lb/>
weniger Jahre und zwar nicht durch das Eingreifen des Reichs, sondern durch<lb/>
die Entwickelung der Dinge in Schwaben selbst, über Bord geworfen sein werden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1027" next="#ID_1028"> Wir glauben überhaupt mit Grund annehmen zu dürfen, daß in der näch¬<lb/>
sten Zeit der Schwerpunkt der politischen Bewegung weit mehr in die Einzel¬<lb/>
staaten fallen wird, als man dies gewöhnlich annimmt. Zwar das allgemeine<lb/>
Interesse wird sich vorherrschend im Reichstag concentriren, wo künftighin allein<lb/>
die Fragen der hohen Politik und diejenigen Aufgaben der Gesetzgebung ihre Er¬<lb/>
ledigung finden werden, welche vorzugsweise die Aufmerksamkeit der sogenannten<lb/>
politischen Kreise zu erwecken geeignet sind, wie Presse, Bereinsrecht, Militärein¬<lb/>
richtungen ?c.  Ganz anders verhält es sich dagegen hinsichtlich der ferneren</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Gr-Njwtm I. l87I. 36</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0285] den katholischen Theologen Kühn, den Fürsten von Oe. Wall erste in, und den aus dem Zollparlament bekannten Freiherrn von Neurath. Der letztere glaubte dem Ministerium den verdeckten Borwurf machen zu müssen, daß es den König über die Gefahren, welche durch den neuen Rechtszustand für den Thron entstehen können, nicht aufgeklärt habe, indem er zugleich auf die Rechte der Agnaten hinwies. Ihm wurde jedoch von dem Berichterstatter, dem früheren Minister von Linden, der mit großer Wärme das neue deutsche Reich als den einzigen und sichersten Schutz der württembergischen Krone be¬ zeichnete, sofort entgegengetreten, der persönliche Vorwurf gegen das Ministerium aber von Herrn von Mittnacht, dem Nachfolger Neuraths im Portefeuille der Justiz, mit Entrüstung zurückgewiesen. Die in der Kammer vertretenen Agnaten dagegen widerlegten den „getreuen Eckart des königl. Hauses" durch ihre ein¬ stimmige Genehmigung der Verträge. Diese Abstimmung lieferte zugleich den immerhin bedeutsamen Beweis, daß der oberschwäbische hohe Adel, welcher bis dahin eine der stärksten Stützen der sogenannten großdeutschen Partei ge¬ bildet hatte, bereits seine Blicke der neu aufgehenden Sonne des deutschen Kaiserthums zuzuwenden beginnt. Der hiermit vollzogene Eintritt in das deutsche Reich involvirt, wenn man es auch von Seiten der Negierung nicht zugibt, und selbst die nationalen Organe es nur schüchtern einräumen, eine sehr weit reichende Beschränkung der Souveränität deswürttembergischenStaates, mit andern Worten eineArt vonMe- diatisirung desselben. Wir begrüßen hierin den segensreichsten Fortschritt, welchen die schwäbische Geschichte im Laufe dieses Jahrhunderts gemacht hat, und er¬ kennen in ihr das einzige Mittel, unseren Staat, der seit Jahren in Folge der immer mehr um sich greifenden Absonderung auf allen Gebieten des Lebens einer völligen Versumpfung entgegenging, durch die Ausnahme in ein größeres Ganzes und Zuleitung neuer Lebenskräfte zu regeneriren. Die theilweise Sonderstellung, welche Württemberg durch die Verträge im Vergleich zu den Nordbundstaaten noch gewährt ist, kommt für uns nicht in Betracht, denn mit Sicherheit läßt sich voraussagen, daß diese Besonderheiten im Laufe weniger Jahre und zwar nicht durch das Eingreifen des Reichs, sondern durch die Entwickelung der Dinge in Schwaben selbst, über Bord geworfen sein werden. Wir glauben überhaupt mit Grund annehmen zu dürfen, daß in der näch¬ sten Zeit der Schwerpunkt der politischen Bewegung weit mehr in die Einzel¬ staaten fallen wird, als man dies gewöhnlich annimmt. Zwar das allgemeine Interesse wird sich vorherrschend im Reichstag concentriren, wo künftighin allein die Fragen der hohen Politik und diejenigen Aufgaben der Gesetzgebung ihre Er¬ ledigung finden werden, welche vorzugsweise die Aufmerksamkeit der sogenannten politischen Kreise zu erwecken geeignet sind, wie Presse, Bereinsrecht, Militärein¬ richtungen ?c. Ganz anders verhält es sich dagegen hinsichtlich der ferneren Gr-Njwtm I. l87I. 36

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/285
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/285>, abgerufen am 26.06.2024.