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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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Reichstages, natürlich mit dem stillschweigenden Vorbehalt, bei einer etwaigen
Ueberstimmung durch das übrige Deutschland, wieder auf den Zollparlaments¬
standpunkt zurückzukehren; man klagte über den Verlust der altwürttembergi-
schen Freiheiten, und rechnete mit Zahlen u ig, Kolb dem Lande seinen gänz¬
lichen ökonomischen Ruin vor, indem man es zugleich mit der künftigen
Allianz zwischen Oestreich und dem rachedürstenden Frankreich bedrohte. In
Tübingen war es namentlich der s. Z. aus Prag berufene Professor Brinz,
der mit seinen auf die Hefe der demokratischen Partei berechneten Reden, welche
er in verschiedenen Bezirken, auf den Wahlversammlungen herumziehend, im
Geist der bayrischen Patrioten abhielt, allgemeines Aufsehen erregte. Allein
das Volk ließ sich dieses Mal durch die verbrauchten Mittel Kleonischer
Beredtsamkeit nicht berücken. Von 70 durch das allgemeine Stimmrecht mit
Diäten gewählten Abgeordneten, gelang der ultramontan-demokratischen
Partei nur 18 durchzusetzen, wogegen 36 Männer der nationalen Richtung
und 16 Anhänger der Regierung um jeden Preis (Schulzen und Administrativ¬
beamte) gewählt wurden. Dabei verdient als nicht ohne Bedeutung in einem
so wichtigen Wendepunkt der schwäbischen Geschichte hervorgehoben zu werden,
daß gerade in den 38 Wahlbezirken des ehemaligen Herzogthums Württemberg
welche allein auf eine Jahrhunderte alte Verfafsungsfreiheit pochen konnten, nur 3,
in 10 ehemals reichsstädtischen Bezirken aber nur 1 Demokrat gewählt wurde,
Während die übrigen 14 gewählten Anhänger der großdeutschen Demokratie
aus ehemaligen geistlichen Fürstentümern und vorderöstreichischen Besitzungen
gesendet wurden, also aus Bezirken, in welchen nicht nur alle historische An¬
hänglichkeit für gegebene Verfassungszustande fehlt, sondern in welchen auch
in Folge der geringen politischen Bildungsstufe der Bevölkerung die Wähler
einfach den Weisungen des östreichisch gesinnten katholischen Klerus folgten.
Man ersieht hieraus am besten, daß die großdeutsche Demokratie in den Kreisen
des Bürgerthums in Schwaben allen und jeden Boden verloren hat.

Am 19. Dezember trat die neue Stände-Kammer zum ersten Male zu¬
sammen, der die Ausgabe gestellt war, Württemberg als lebendiges Glied in
das neue deutsche Reich einzureihen, und der langen fruchtlosen Fehde, welche
seit vier Jahren das Land zerfleischt und jede Besserung seiner Zustän'de vereitelt
hatte, ein Ende zu machen. Wie ganz anders war der Anblick dieser Kammer
im Vergleich mit der vor zwei Monaten entlassenen! Vergebens suchte das
Auge die Männer des Zollparlaments: die Ammermüller, Deffner, Becher,
Vayhinger, Reihet, Tafel; vergebens einen C. Mayer, S. Schott und Fricker,
jene Männer, welche seit dem Jahr 1866 nichts gelernt und sehr viel ver¬
gessen hatten, und in kleinlichen Tücken ihren Grimm über den Gang der
Weltgeschichte auszulassen gewohnt waren. An die Stelle dieser politischen
Fanatiker war ein neues Geschlecht getreten, das der feste Wille beseelte, die


Reichstages, natürlich mit dem stillschweigenden Vorbehalt, bei einer etwaigen
Ueberstimmung durch das übrige Deutschland, wieder auf den Zollparlaments¬
standpunkt zurückzukehren; man klagte über den Verlust der altwürttembergi-
schen Freiheiten, und rechnete mit Zahlen u ig, Kolb dem Lande seinen gänz¬
lichen ökonomischen Ruin vor, indem man es zugleich mit der künftigen
Allianz zwischen Oestreich und dem rachedürstenden Frankreich bedrohte. In
Tübingen war es namentlich der s. Z. aus Prag berufene Professor Brinz,
der mit seinen auf die Hefe der demokratischen Partei berechneten Reden, welche
er in verschiedenen Bezirken, auf den Wahlversammlungen herumziehend, im
Geist der bayrischen Patrioten abhielt, allgemeines Aufsehen erregte. Allein
das Volk ließ sich dieses Mal durch die verbrauchten Mittel Kleonischer
Beredtsamkeit nicht berücken. Von 70 durch das allgemeine Stimmrecht mit
Diäten gewählten Abgeordneten, gelang der ultramontan-demokratischen
Partei nur 18 durchzusetzen, wogegen 36 Männer der nationalen Richtung
und 16 Anhänger der Regierung um jeden Preis (Schulzen und Administrativ¬
beamte) gewählt wurden. Dabei verdient als nicht ohne Bedeutung in einem
so wichtigen Wendepunkt der schwäbischen Geschichte hervorgehoben zu werden,
daß gerade in den 38 Wahlbezirken des ehemaligen Herzogthums Württemberg
welche allein auf eine Jahrhunderte alte Verfafsungsfreiheit pochen konnten, nur 3,
in 10 ehemals reichsstädtischen Bezirken aber nur 1 Demokrat gewählt wurde,
Während die übrigen 14 gewählten Anhänger der großdeutschen Demokratie
aus ehemaligen geistlichen Fürstentümern und vorderöstreichischen Besitzungen
gesendet wurden, also aus Bezirken, in welchen nicht nur alle historische An¬
hänglichkeit für gegebene Verfassungszustande fehlt, sondern in welchen auch
in Folge der geringen politischen Bildungsstufe der Bevölkerung die Wähler
einfach den Weisungen des östreichisch gesinnten katholischen Klerus folgten.
Man ersieht hieraus am besten, daß die großdeutsche Demokratie in den Kreisen
des Bürgerthums in Schwaben allen und jeden Boden verloren hat.

Am 19. Dezember trat die neue Stände-Kammer zum ersten Male zu¬
sammen, der die Ausgabe gestellt war, Württemberg als lebendiges Glied in
das neue deutsche Reich einzureihen, und der langen fruchtlosen Fehde, welche
seit vier Jahren das Land zerfleischt und jede Besserung seiner Zustän'de vereitelt
hatte, ein Ende zu machen. Wie ganz anders war der Anblick dieser Kammer
im Vergleich mit der vor zwei Monaten entlassenen! Vergebens suchte das
Auge die Männer des Zollparlaments: die Ammermüller, Deffner, Becher,
Vayhinger, Reihet, Tafel; vergebens einen C. Mayer, S. Schott und Fricker,
jene Männer, welche seit dem Jahr 1866 nichts gelernt und sehr viel ver¬
gessen hatten, und in kleinlichen Tücken ihren Grimm über den Gang der
Weltgeschichte auszulassen gewohnt waren. An die Stelle dieser politischen
Fanatiker war ein neues Geschlecht getreten, das der feste Wille beseelte, die


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[0283] Reichstages, natürlich mit dem stillschweigenden Vorbehalt, bei einer etwaigen Ueberstimmung durch das übrige Deutschland, wieder auf den Zollparlaments¬ standpunkt zurückzukehren; man klagte über den Verlust der altwürttembergi- schen Freiheiten, und rechnete mit Zahlen u ig, Kolb dem Lande seinen gänz¬ lichen ökonomischen Ruin vor, indem man es zugleich mit der künftigen Allianz zwischen Oestreich und dem rachedürstenden Frankreich bedrohte. In Tübingen war es namentlich der s. Z. aus Prag berufene Professor Brinz, der mit seinen auf die Hefe der demokratischen Partei berechneten Reden, welche er in verschiedenen Bezirken, auf den Wahlversammlungen herumziehend, im Geist der bayrischen Patrioten abhielt, allgemeines Aufsehen erregte. Allein das Volk ließ sich dieses Mal durch die verbrauchten Mittel Kleonischer Beredtsamkeit nicht berücken. Von 70 durch das allgemeine Stimmrecht mit Diäten gewählten Abgeordneten, gelang der ultramontan-demokratischen Partei nur 18 durchzusetzen, wogegen 36 Männer der nationalen Richtung und 16 Anhänger der Regierung um jeden Preis (Schulzen und Administrativ¬ beamte) gewählt wurden. Dabei verdient als nicht ohne Bedeutung in einem so wichtigen Wendepunkt der schwäbischen Geschichte hervorgehoben zu werden, daß gerade in den 38 Wahlbezirken des ehemaligen Herzogthums Württemberg welche allein auf eine Jahrhunderte alte Verfafsungsfreiheit pochen konnten, nur 3, in 10 ehemals reichsstädtischen Bezirken aber nur 1 Demokrat gewählt wurde, Während die übrigen 14 gewählten Anhänger der großdeutschen Demokratie aus ehemaligen geistlichen Fürstentümern und vorderöstreichischen Besitzungen gesendet wurden, also aus Bezirken, in welchen nicht nur alle historische An¬ hänglichkeit für gegebene Verfassungszustande fehlt, sondern in welchen auch in Folge der geringen politischen Bildungsstufe der Bevölkerung die Wähler einfach den Weisungen des östreichisch gesinnten katholischen Klerus folgten. Man ersieht hieraus am besten, daß die großdeutsche Demokratie in den Kreisen des Bürgerthums in Schwaben allen und jeden Boden verloren hat. Am 19. Dezember trat die neue Stände-Kammer zum ersten Male zu¬ sammen, der die Ausgabe gestellt war, Württemberg als lebendiges Glied in das neue deutsche Reich einzureihen, und der langen fruchtlosen Fehde, welche seit vier Jahren das Land zerfleischt und jede Besserung seiner Zustän'de vereitelt hatte, ein Ende zu machen. Wie ganz anders war der Anblick dieser Kammer im Vergleich mit der vor zwei Monaten entlassenen! Vergebens suchte das Auge die Männer des Zollparlaments: die Ammermüller, Deffner, Becher, Vayhinger, Reihet, Tafel; vergebens einen C. Mayer, S. Schott und Fricker, jene Männer, welche seit dem Jahr 1866 nichts gelernt und sehr viel ver¬ gessen hatten, und in kleinlichen Tücken ihren Grimm über den Gang der Weltgeschichte auszulassen gewohnt waren. An die Stelle dieser politischen Fanatiker war ein neues Geschlecht getreten, das der feste Wille beseelte, die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/283>, abgerufen am 26.06.2024.