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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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Kehrseite, Bei der schroffen Abgeschlossenheit, welche, im Unterschied zu den
benachbarten Höfen in München und Karlsruhe, seit Jahren die württem¬
bergischen Hofcirkel charakterisirt, und der großen Kluft, welche zwischen der
hier von jeher den Ton angehenden ausländischen Diplomatie, und den in
schwäbischer Derbheit herangewachsenen bürgerlichen Elementen des Ministeriums
bestand, hatten bisher die adeligen Mitglieder gleichsam die Vermittelung
zwischen dem Ministerium und dem Hof gebildet. Sie allein waren über die
hier herrschende Stimmung informire; und wenn auch die bürgerlichen Col-
legen sich bisher öfter darüber beklagen mochten, daß Herr von Varnbüler
ihnen nicht immer reinen Wein eingeschenkt, so war doch noch ein Zusammen¬
hang mit den Hofkreisen vorhanden. Jetzt war dieser plötzlich unterbrochen,
und doch war dort nicht Alles, wie es sein sollte. Man hatte bisher die
Souveränität bei jeder Gelegenheit so stark aecentuirt, und sah nun plötzlich
das Programm der Männer, die man eben noch als Hochverräther behandelt
hatte, in der Verwirklichung begriffen. Die Theilnahme an den nationalen
Freudenbezeugungen der letzten Zeit war mehr Sache der Courtoisie ge¬
wesen, mit den Verhandlungen über das Verfassungsbündniß dagegen war
man an dem Punkt angekommen, wo man sich nicht verhehlen konnte, daß
die Stellung der Monarchie einer wesentlichen Umgestaltung entgegen gehen
werde. Sah man auch schließlich die Nothwendigkeit ein, so war doch der
Widerwille nicht zu verkennen, mit welchem man sich in die neue Lage fügte.
Die fremde Diplomatie wußte noch im letzten Augenblick diese Stimmung zu
einem Gewebe zu benutzen, dessen Anzettelung dem Ministerium anfangs gänz¬
lich fremd blieb. In der ersten Hälfte Oktobers war in einem Ministerrath
beschlossen worden, das noch in München bei den Verhandlungen mit Del-
brück beobachtete Zusammengehen mit Bayern aufzugeben. Man hatte her¬
ausgefühlt, daß trotz aller Zurückhaltung, welche der Bevollmächtigte der
preußischen Regierung an den Tag legte, diese fest entschlossen war, an der
Verfassung des Norddeutschen Bundes als Grundlage der Verständigung mit
den süddeutschen Staaten fest zu halten, und wußte, daß der unbedingte Ein¬
tritt von Baden und Hessen bereits gesichert war. Es wurde daher beschlossen,
mit diesen letzteren Staaten zusammen zu gehen, natürlich mit dem
Vorbehalt, von der Selbständigkeit so viel wie möglich zu retten. Der
König genehmigte die Beschlüsse des Ministerraths und die Herren von
Mittnacht und von Succow reisten mit der Vollmacht, auch den unbedingten
Eintritt in den Nordbund zu unterzeichnen, am 19. Oktober nach Versailles
ab, ohne die Ankunft der bayrischen Bevollmächtigten, welche am 20. durch
Stuttgart kamen, abzuwarten. In Versailles nahmen die Verhandlungen mit
Baden, Hessen und Württemberg, welche bis zum 7. November mit jedem
einzeln durch Delbrück, von da an unter dem Vorsitz des Grafen von Bismarck


Kehrseite, Bei der schroffen Abgeschlossenheit, welche, im Unterschied zu den
benachbarten Höfen in München und Karlsruhe, seit Jahren die württem¬
bergischen Hofcirkel charakterisirt, und der großen Kluft, welche zwischen der
hier von jeher den Ton angehenden ausländischen Diplomatie, und den in
schwäbischer Derbheit herangewachsenen bürgerlichen Elementen des Ministeriums
bestand, hatten bisher die adeligen Mitglieder gleichsam die Vermittelung
zwischen dem Ministerium und dem Hof gebildet. Sie allein waren über die
hier herrschende Stimmung informire; und wenn auch die bürgerlichen Col-
legen sich bisher öfter darüber beklagen mochten, daß Herr von Varnbüler
ihnen nicht immer reinen Wein eingeschenkt, so war doch noch ein Zusammen¬
hang mit den Hofkreisen vorhanden. Jetzt war dieser plötzlich unterbrochen,
und doch war dort nicht Alles, wie es sein sollte. Man hatte bisher die
Souveränität bei jeder Gelegenheit so stark aecentuirt, und sah nun plötzlich
das Programm der Männer, die man eben noch als Hochverräther behandelt
hatte, in der Verwirklichung begriffen. Die Theilnahme an den nationalen
Freudenbezeugungen der letzten Zeit war mehr Sache der Courtoisie ge¬
wesen, mit den Verhandlungen über das Verfassungsbündniß dagegen war
man an dem Punkt angekommen, wo man sich nicht verhehlen konnte, daß
die Stellung der Monarchie einer wesentlichen Umgestaltung entgegen gehen
werde. Sah man auch schließlich die Nothwendigkeit ein, so war doch der
Widerwille nicht zu verkennen, mit welchem man sich in die neue Lage fügte.
Die fremde Diplomatie wußte noch im letzten Augenblick diese Stimmung zu
einem Gewebe zu benutzen, dessen Anzettelung dem Ministerium anfangs gänz¬
lich fremd blieb. In der ersten Hälfte Oktobers war in einem Ministerrath
beschlossen worden, das noch in München bei den Verhandlungen mit Del-
brück beobachtete Zusammengehen mit Bayern aufzugeben. Man hatte her¬
ausgefühlt, daß trotz aller Zurückhaltung, welche der Bevollmächtigte der
preußischen Regierung an den Tag legte, diese fest entschlossen war, an der
Verfassung des Norddeutschen Bundes als Grundlage der Verständigung mit
den süddeutschen Staaten fest zu halten, und wußte, daß der unbedingte Ein¬
tritt von Baden und Hessen bereits gesichert war. Es wurde daher beschlossen,
mit diesen letzteren Staaten zusammen zu gehen, natürlich mit dem
Vorbehalt, von der Selbständigkeit so viel wie möglich zu retten. Der
König genehmigte die Beschlüsse des Ministerraths und die Herren von
Mittnacht und von Succow reisten mit der Vollmacht, auch den unbedingten
Eintritt in den Nordbund zu unterzeichnen, am 19. Oktober nach Versailles
ab, ohne die Ankunft der bayrischen Bevollmächtigten, welche am 20. durch
Stuttgart kamen, abzuwarten. In Versailles nahmen die Verhandlungen mit
Baden, Hessen und Württemberg, welche bis zum 7. November mit jedem
einzeln durch Delbrück, von da an unter dem Vorsitz des Grafen von Bismarck


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/280>, abgerufen am 26.06.2024.