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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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dieser Meister gerade in dieser Gattung, wie lohnend und wohlthuend die Be¬
schäftigung mit ihren Liedern. Man erwarte freilich ja nichts Anderes, als
die einfachsten Laute; aber auch die tiefsten und innigsten Offenbarungen des
Lebens der Seele, der Empfindung. Dreiundvierzig Jahre sind nun ver¬
gangen, seit K. M. von Weber, mitten aus der ruhmvollsten Thätigkeit
herausgerissen, heimgegangen ist in das Reich ewiger Harmonien. Seine dra¬
matischen Werke sind heute noch die Lieblinge des Volkes; sie haben nichts
von ihrem Zauber, von ihrem Glänze, von ihren Jugendreizen verloren;
seine Melodien entzücken, täglich gehört, stets aufs Neue. Nun, dieser von
Gott mit einem unerschöpflichen Melodicnreichthum gesegnete Tonsetzer hat
viele, viele Lieder componirt, die sich durch Reiz, Schönheit, Tiefe und Innig¬
keit auszeichnen, aber wer kennt, wer singt sie? Die Nachwelt hat sie vergessen;
sie sind überfluthet worden , haben Jahrzehnte, tief in Staub und Maculatur
begraben gelegen. Endlich fand sich ein Schatzgräber für sie. Er erweckt,
er belebt die Vergessenen wieder und zur Freude aller Musikkenner unver¬
dorbenen Sinnes, besonders aber zur Freude und zur Ergötzung aller musi¬
kalischen Familienkreise zieht er sie ans Tageslicht. Diese Weber'schen Lieder
gehören ganz jener naiven, erquicklichen, tröstlichen und erheiternden Musik¬
gattung an, die im Liede vorzugsweisen Ausdruck gewinnen soll. Ihr Me¬
lodienzauber ist unerschöpflich, ihre Sangbarkeit macht sie jedem Sänger zu¬
gänglich. Vom einfachen Wiegen- und Volksliede an durchlaufen sie die ganze
Stufenleiter des Ausdrucks und der Empfindungen. Sogar für unsere rigo¬
roser Concertsänger dürfte sich hier beachtenswerte und lohnende Ausbeute
finden. Auf eine Eigenthümlichkeit dieser Lieder müssen wir aber noch beson¬
ders hinweisen: die Einfachheit des Accompagnements. Man muß sich hier
fragen: warum haben Mozart, Beethoven und Weber, die doch zugleich zu
den hervorragendsten Klaviervirtuosen ihrer Zeit gehörten, so bescheidene Be¬
gleitungen zu ihren Liedern geschrieben? Etwa, weil sie im Stande waren,
Melodien zu erfinden, die so schön, so innig, so charakteristisch und vielsagend
sind, daß sie nur des einfachsten Nahmens der Begleitung bedürfen, um
volle Wirkung hervorzubringen? Oder etwa aus Mangel an Fähigkeit,
oder träger Geringschätzung der kleinen Liedform? Nein, das gerade
ist eine unerläßliche Eigenschaft des Liedes, daß sich der Singende
selbst accompagniren kann; denn das Lied, dieser geheimste, beseligendste
Zeuge der innersten Empfindung, wird am besten allein genossen, am
leichtesten verstanden, wenn der Sänger mit sich allein ist. Beim
Liedergesang, in dem die Seele sich rückhaltlos ausströmt, sind Zeugen und
Zuhörer überflüssig, kann ein besonderer Begleiter geradezu lästig werden.
Blickt man über die mit Notenköpfen überdeckten, und mit Bortragszeichen
überladenen Liederhefte der neueren Zeit, so kommt uns durch das Auge schon


Grenzboten I. 1871. 34

dieser Meister gerade in dieser Gattung, wie lohnend und wohlthuend die Be¬
schäftigung mit ihren Liedern. Man erwarte freilich ja nichts Anderes, als
die einfachsten Laute; aber auch die tiefsten und innigsten Offenbarungen des
Lebens der Seele, der Empfindung. Dreiundvierzig Jahre sind nun ver¬
gangen, seit K. M. von Weber, mitten aus der ruhmvollsten Thätigkeit
herausgerissen, heimgegangen ist in das Reich ewiger Harmonien. Seine dra¬
matischen Werke sind heute noch die Lieblinge des Volkes; sie haben nichts
von ihrem Zauber, von ihrem Glänze, von ihren Jugendreizen verloren;
seine Melodien entzücken, täglich gehört, stets aufs Neue. Nun, dieser von
Gott mit einem unerschöpflichen Melodicnreichthum gesegnete Tonsetzer hat
viele, viele Lieder componirt, die sich durch Reiz, Schönheit, Tiefe und Innig¬
keit auszeichnen, aber wer kennt, wer singt sie? Die Nachwelt hat sie vergessen;
sie sind überfluthet worden , haben Jahrzehnte, tief in Staub und Maculatur
begraben gelegen. Endlich fand sich ein Schatzgräber für sie. Er erweckt,
er belebt die Vergessenen wieder und zur Freude aller Musikkenner unver¬
dorbenen Sinnes, besonders aber zur Freude und zur Ergötzung aller musi¬
kalischen Familienkreise zieht er sie ans Tageslicht. Diese Weber'schen Lieder
gehören ganz jener naiven, erquicklichen, tröstlichen und erheiternden Musik¬
gattung an, die im Liede vorzugsweisen Ausdruck gewinnen soll. Ihr Me¬
lodienzauber ist unerschöpflich, ihre Sangbarkeit macht sie jedem Sänger zu¬
gänglich. Vom einfachen Wiegen- und Volksliede an durchlaufen sie die ganze
Stufenleiter des Ausdrucks und der Empfindungen. Sogar für unsere rigo¬
roser Concertsänger dürfte sich hier beachtenswerte und lohnende Ausbeute
finden. Auf eine Eigenthümlichkeit dieser Lieder müssen wir aber noch beson¬
ders hinweisen: die Einfachheit des Accompagnements. Man muß sich hier
fragen: warum haben Mozart, Beethoven und Weber, die doch zugleich zu
den hervorragendsten Klaviervirtuosen ihrer Zeit gehörten, so bescheidene Be¬
gleitungen zu ihren Liedern geschrieben? Etwa, weil sie im Stande waren,
Melodien zu erfinden, die so schön, so innig, so charakteristisch und vielsagend
sind, daß sie nur des einfachsten Nahmens der Begleitung bedürfen, um
volle Wirkung hervorzubringen? Oder etwa aus Mangel an Fähigkeit,
oder träger Geringschätzung der kleinen Liedform? Nein, das gerade
ist eine unerläßliche Eigenschaft des Liedes, daß sich der Singende
selbst accompagniren kann; denn das Lied, dieser geheimste, beseligendste
Zeuge der innersten Empfindung, wird am besten allein genossen, am
leichtesten verstanden, wenn der Sänger mit sich allein ist. Beim
Liedergesang, in dem die Seele sich rückhaltlos ausströmt, sind Zeugen und
Zuhörer überflüssig, kann ein besonderer Begleiter geradezu lästig werden.
Blickt man über die mit Notenköpfen überdeckten, und mit Bortragszeichen
überladenen Liederhefte der neueren Zeit, so kommt uns durch das Auge schon


Grenzboten I. 1871. 34
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[0269] dieser Meister gerade in dieser Gattung, wie lohnend und wohlthuend die Be¬ schäftigung mit ihren Liedern. Man erwarte freilich ja nichts Anderes, als die einfachsten Laute; aber auch die tiefsten und innigsten Offenbarungen des Lebens der Seele, der Empfindung. Dreiundvierzig Jahre sind nun ver¬ gangen, seit K. M. von Weber, mitten aus der ruhmvollsten Thätigkeit herausgerissen, heimgegangen ist in das Reich ewiger Harmonien. Seine dra¬ matischen Werke sind heute noch die Lieblinge des Volkes; sie haben nichts von ihrem Zauber, von ihrem Glänze, von ihren Jugendreizen verloren; seine Melodien entzücken, täglich gehört, stets aufs Neue. Nun, dieser von Gott mit einem unerschöpflichen Melodicnreichthum gesegnete Tonsetzer hat viele, viele Lieder componirt, die sich durch Reiz, Schönheit, Tiefe und Innig¬ keit auszeichnen, aber wer kennt, wer singt sie? Die Nachwelt hat sie vergessen; sie sind überfluthet worden , haben Jahrzehnte, tief in Staub und Maculatur begraben gelegen. Endlich fand sich ein Schatzgräber für sie. Er erweckt, er belebt die Vergessenen wieder und zur Freude aller Musikkenner unver¬ dorbenen Sinnes, besonders aber zur Freude und zur Ergötzung aller musi¬ kalischen Familienkreise zieht er sie ans Tageslicht. Diese Weber'schen Lieder gehören ganz jener naiven, erquicklichen, tröstlichen und erheiternden Musik¬ gattung an, die im Liede vorzugsweisen Ausdruck gewinnen soll. Ihr Me¬ lodienzauber ist unerschöpflich, ihre Sangbarkeit macht sie jedem Sänger zu¬ gänglich. Vom einfachen Wiegen- und Volksliede an durchlaufen sie die ganze Stufenleiter des Ausdrucks und der Empfindungen. Sogar für unsere rigo¬ roser Concertsänger dürfte sich hier beachtenswerte und lohnende Ausbeute finden. Auf eine Eigenthümlichkeit dieser Lieder müssen wir aber noch beson¬ ders hinweisen: die Einfachheit des Accompagnements. Man muß sich hier fragen: warum haben Mozart, Beethoven und Weber, die doch zugleich zu den hervorragendsten Klaviervirtuosen ihrer Zeit gehörten, so bescheidene Be¬ gleitungen zu ihren Liedern geschrieben? Etwa, weil sie im Stande waren, Melodien zu erfinden, die so schön, so innig, so charakteristisch und vielsagend sind, daß sie nur des einfachsten Nahmens der Begleitung bedürfen, um volle Wirkung hervorzubringen? Oder etwa aus Mangel an Fähigkeit, oder träger Geringschätzung der kleinen Liedform? Nein, das gerade ist eine unerläßliche Eigenschaft des Liedes, daß sich der Singende selbst accompagniren kann; denn das Lied, dieser geheimste, beseligendste Zeuge der innersten Empfindung, wird am besten allein genossen, am leichtesten verstanden, wenn der Sänger mit sich allein ist. Beim Liedergesang, in dem die Seele sich rückhaltlos ausströmt, sind Zeugen und Zuhörer überflüssig, kann ein besonderer Begleiter geradezu lästig werden. Blickt man über die mit Notenköpfen überdeckten, und mit Bortragszeichen überladenen Liederhefte der neueren Zeit, so kommt uns durch das Auge schon Grenzboten I. 1871. 34

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/269>, abgerufen am 26.06.2024.