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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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war fast entfallen, daß auch L. v, Beethoven (1770--1827) Lieder com-
ponirt hatte, und außer "Adelaide" und den "geistlichen Liedern von Gellert"
alles Uebrige unbekannt. Nun bringt die neue Leipziger Ausgabe der sämmt¬
lichen Werke des Meisters auch einen stattlichen Band herrlicher Lieder, deren
Mannigfaltigkeit, Reiz und Originalität Sänger wie Hörer entzücken müssen.
Von allen den großen Liedermeistern, die wir hier genannt haben, wurde
neben Beethoven nur Reichardt in einer sehr geringen Auswahl seiner Ton¬
sätze (Leipzig, Breitkopf und Härtel) der Gegenwart wieder zugänglich ge¬
macht; die übrigen harren noch der Auferstehung.

Wenn diese Tonsetzer die frühere Periode des Liedergesanges repräsen-
tiren, so bildet Fr. Schubert (1797--1828) mit einigen seiner Zeitgenossen
diejenige der Uebergangszeit. Er ist unter seinen College" der gottbegnadetste
und hervorragendste. Seine Lieder sind naiv und originell zugleich, von
höchster Anmuth und Schönheit und doch ohne äußerliche Prätension; sie sind
ebenso glücklich erdacht und erfunden, als tief und innig empfunden und seine
Begleitungen halten noch gerade die rechte Mitte zwischen schwer und leicht.
Dem Zauber seiner Gesänge vermag kein fühlendes Herz zu widerstehen und
unter den Lesern dieses Blattes ist vielleicht keiner, der ihnen nicht schon
mit Entzücken oftmals gelauscht hätte. Schubert theilt sich mit Mendels¬
sohn und Schumann, zu denen hie und da noch N. Franz und I. Brahms
tritt, ausschließlich in die Concertvorträge der Gegenwart. Unsere Concert¬
sänger singen nur Lieder dieser Meister und da sie auch nur wieder einzelne
der ansprechendsten derselben auszuwählen pflegen, so hört man in allen Con¬
certen in der Regel immer nur die gleichen Kompositionen, was jedenfalls
eine große Einseitigkeit ist, von dem Unrecht, das man durch gänzliche Ver¬
nachlässigung andern Tonsetzern zufügt, gar nicht zu sprechen.

Zeitgenossen Schubert's waren K. M. von W e b er (1786--182K) und
L. Spohr (1784--18S9), die Schöpfer des Freischütz und der Jessonda, der
Euryanthe und des Faust. Seit Vater Hiller's Tagen (1728--1804) hat
alle deutsche Komponisten das gleiche Streben beseelt, ihr Volk mit schönen
Liedern zu beschenken. Es gibt kaum einen nennenswerthen Tonsetzer, der
nicht wenigstens einzelne gelungene Lieder geschrieben hätte, ja gerade die
besten unserer Meister haben einen besonderen Stolz darein gesetzt, auch auf
diesem Gebiete sich auszuzeichnen, Schiller's und Goethe's dramatische Werke
sind anerkanntermaßen das Bedeutendste, was diese großen Männer geschaffen
haben, aber wer wird deshalb ihre Gedichte, selbst die kleinsten, missen wollen?

Die Opern von Mozart, Beethoven, Weber und Spohr werden stets
unsere ganze Bewunderung herausfordern, aber ist verzeihlich, über diesen ge¬
waltigen Werken die kleineren, die vorzugsweise lieblichen, ihre Lieder ganz
unbeachtet zu lassen? Und wie reich und mannigfaltig sind die Leistungen


war fast entfallen, daß auch L. v, Beethoven (1770—1827) Lieder com-
ponirt hatte, und außer „Adelaide" und den „geistlichen Liedern von Gellert"
alles Uebrige unbekannt. Nun bringt die neue Leipziger Ausgabe der sämmt¬
lichen Werke des Meisters auch einen stattlichen Band herrlicher Lieder, deren
Mannigfaltigkeit, Reiz und Originalität Sänger wie Hörer entzücken müssen.
Von allen den großen Liedermeistern, die wir hier genannt haben, wurde
neben Beethoven nur Reichardt in einer sehr geringen Auswahl seiner Ton¬
sätze (Leipzig, Breitkopf und Härtel) der Gegenwart wieder zugänglich ge¬
macht; die übrigen harren noch der Auferstehung.

Wenn diese Tonsetzer die frühere Periode des Liedergesanges repräsen-
tiren, so bildet Fr. Schubert (1797—1828) mit einigen seiner Zeitgenossen
diejenige der Uebergangszeit. Er ist unter seinen College» der gottbegnadetste
und hervorragendste. Seine Lieder sind naiv und originell zugleich, von
höchster Anmuth und Schönheit und doch ohne äußerliche Prätension; sie sind
ebenso glücklich erdacht und erfunden, als tief und innig empfunden und seine
Begleitungen halten noch gerade die rechte Mitte zwischen schwer und leicht.
Dem Zauber seiner Gesänge vermag kein fühlendes Herz zu widerstehen und
unter den Lesern dieses Blattes ist vielleicht keiner, der ihnen nicht schon
mit Entzücken oftmals gelauscht hätte. Schubert theilt sich mit Mendels¬
sohn und Schumann, zu denen hie und da noch N. Franz und I. Brahms
tritt, ausschließlich in die Concertvorträge der Gegenwart. Unsere Concert¬
sänger singen nur Lieder dieser Meister und da sie auch nur wieder einzelne
der ansprechendsten derselben auszuwählen pflegen, so hört man in allen Con¬
certen in der Regel immer nur die gleichen Kompositionen, was jedenfalls
eine große Einseitigkeit ist, von dem Unrecht, das man durch gänzliche Ver¬
nachlässigung andern Tonsetzern zufügt, gar nicht zu sprechen.

Zeitgenossen Schubert's waren K. M. von W e b er (1786—182K) und
L. Spohr (1784—18S9), die Schöpfer des Freischütz und der Jessonda, der
Euryanthe und des Faust. Seit Vater Hiller's Tagen (1728—1804) hat
alle deutsche Komponisten das gleiche Streben beseelt, ihr Volk mit schönen
Liedern zu beschenken. Es gibt kaum einen nennenswerthen Tonsetzer, der
nicht wenigstens einzelne gelungene Lieder geschrieben hätte, ja gerade die
besten unserer Meister haben einen besonderen Stolz darein gesetzt, auch auf
diesem Gebiete sich auszuzeichnen, Schiller's und Goethe's dramatische Werke
sind anerkanntermaßen das Bedeutendste, was diese großen Männer geschaffen
haben, aber wer wird deshalb ihre Gedichte, selbst die kleinsten, missen wollen?

Die Opern von Mozart, Beethoven, Weber und Spohr werden stets
unsere ganze Bewunderung herausfordern, aber ist verzeihlich, über diesen ge¬
waltigen Werken die kleineren, die vorzugsweise lieblichen, ihre Lieder ganz
unbeachtet zu lassen? Und wie reich und mannigfaltig sind die Leistungen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/268>, abgerufen am 26.06.2024.