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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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sondere dramatische Zuthat erdacht und besonders in der Begleitung so ein¬
gerichtet sein, daß der Sänger, ohne allzugroße Anforderung an sein Klavier¬
spiel zu machen, sich selbst accompagniren kann. Aber das sind Verhältniß-
mäßig noch Nebendinge. Ein gutes Lied muß in erster Linie eine schöne,
faßliche, charakteristische Melodie haben, eine Weise, die man gern singt und
leicht behält. Diesen Erfordernissen eines guten Liedes entsprechen, wenn wir
einen Blick aus unsere Liederliteratur werfen, meist die Lieder der älteren Zeit.
Sie haben meist treffliche, sangbare, fließende, oft sehr ausdrucksvolle Melo¬
dien; dagegen sehr einfache, nicht selten ärmliche Begleitungen. Umgekehrt
zeichnen sich die Lieder der neuen Zeit in der Regel durch ein interessantes
oder interessant sein sollendes, reiches, überladenes Accompagnement aus, durch
eine Klavierpartie, deren erträgliche Ausführung einen Künstler erfordert.
Anders verhält es sich mit der Melodie; sie ist sehr häusig ärmlich, steif, un¬
sangbar, wenig ansprechend, gewöhnlich und ausdruckslos. Das gesunde Ver¬
hältniß hat sich also umgekehrt. Wir wollen durchaus das wahrhaft Gute
unserer Zeit nicht verkennen, aber das Beste ist immer auch das Seltenste
und wir glauben entschuldigt zu sein, wenn wir die Beweise für diese Behaup¬
tung damit beginnen, auf die zahlreichen trefflichen Leistungen einer früheren
Periode aufmerksam zu machen.

Da tritt uns zuerst als ältester Liedermeister I. Fr. Reichardt (1,752--
1814) entgegen, der eigentliche Schöpfer des modernen Liedes. Seine Com-
positionen der Gedichte Goethe's und Schiller's umfassen allein sechs Bände
(Leipzig, Breitkopf und Härtel), seine sonstigen Liedersätze zählen nach.Hunderten.
Er hat das ganze Gebiet der Empfindung, alle Liedformen erschöpft, er ist
so recht der Meister kunstgemäßer musikalischer Declamation. Aber wer singt
seine Lieder noch? Und doch haben seine Melodien die oben aufgezählten
Eigenschaften in hohem Grade. Reichardt hatte zwei berühmte Zeitgenossen,
fruchtbar und tüchtig wie er, aber mit ihm vergessen, den Freund Schiller's:
I. R. Zumsteeg (1760--1802), und-den Freund Goethe's: K. Fr. Zel¬
ter (17581--832). Zählen nun diese Namen unbestritten zu den besten
ihrer Zeit, so gehören sie freilich nicht zu den größten ihrer Kunst und wir
wollen einmal den Einwand gelten lassen, daß man kein allzugroßes Unrecht
begangen habe, sie zu vergessen; wenngleich man ein vorzüglicher Liedercom-
Ponist sein kann, ohne auch ein großer Componist zu sein. Aber denken wir
an größere Namen: I. Haydn (1732--1809) und W. A. Mozart (1756--
1791). Wer singt ihre Lieder? Bon letzterem hören wir hie und da, aber
selten genug, "Das Belieben", oder "Die Abendempfindung"; von ersterem
noch seltner "Sympathie" oder "Ein kleines Haus", alles Andere ist ver¬
schollen und doch wie viel des Köstlichsten findet sich in den Sammlungen
ihrer Gesänge, echte, unvergleichliche Liederperlen. Der Kenntniß unserer Zeit


sondere dramatische Zuthat erdacht und besonders in der Begleitung so ein¬
gerichtet sein, daß der Sänger, ohne allzugroße Anforderung an sein Klavier¬
spiel zu machen, sich selbst accompagniren kann. Aber das sind Verhältniß-
mäßig noch Nebendinge. Ein gutes Lied muß in erster Linie eine schöne,
faßliche, charakteristische Melodie haben, eine Weise, die man gern singt und
leicht behält. Diesen Erfordernissen eines guten Liedes entsprechen, wenn wir
einen Blick aus unsere Liederliteratur werfen, meist die Lieder der älteren Zeit.
Sie haben meist treffliche, sangbare, fließende, oft sehr ausdrucksvolle Melo¬
dien; dagegen sehr einfache, nicht selten ärmliche Begleitungen. Umgekehrt
zeichnen sich die Lieder der neuen Zeit in der Regel durch ein interessantes
oder interessant sein sollendes, reiches, überladenes Accompagnement aus, durch
eine Klavierpartie, deren erträgliche Ausführung einen Künstler erfordert.
Anders verhält es sich mit der Melodie; sie ist sehr häusig ärmlich, steif, un¬
sangbar, wenig ansprechend, gewöhnlich und ausdruckslos. Das gesunde Ver¬
hältniß hat sich also umgekehrt. Wir wollen durchaus das wahrhaft Gute
unserer Zeit nicht verkennen, aber das Beste ist immer auch das Seltenste
und wir glauben entschuldigt zu sein, wenn wir die Beweise für diese Behaup¬
tung damit beginnen, auf die zahlreichen trefflichen Leistungen einer früheren
Periode aufmerksam zu machen.

Da tritt uns zuerst als ältester Liedermeister I. Fr. Reichardt (1,752—
1814) entgegen, der eigentliche Schöpfer des modernen Liedes. Seine Com-
positionen der Gedichte Goethe's und Schiller's umfassen allein sechs Bände
(Leipzig, Breitkopf und Härtel), seine sonstigen Liedersätze zählen nach.Hunderten.
Er hat das ganze Gebiet der Empfindung, alle Liedformen erschöpft, er ist
so recht der Meister kunstgemäßer musikalischer Declamation. Aber wer singt
seine Lieder noch? Und doch haben seine Melodien die oben aufgezählten
Eigenschaften in hohem Grade. Reichardt hatte zwei berühmte Zeitgenossen,
fruchtbar und tüchtig wie er, aber mit ihm vergessen, den Freund Schiller's:
I. R. Zumsteeg (1760—1802), und-den Freund Goethe's: K. Fr. Zel¬
ter (17581—832). Zählen nun diese Namen unbestritten zu den besten
ihrer Zeit, so gehören sie freilich nicht zu den größten ihrer Kunst und wir
wollen einmal den Einwand gelten lassen, daß man kein allzugroßes Unrecht
begangen habe, sie zu vergessen; wenngleich man ein vorzüglicher Liedercom-
Ponist sein kann, ohne auch ein großer Componist zu sein. Aber denken wir
an größere Namen: I. Haydn (1732—1809) und W. A. Mozart (1756—
1791). Wer singt ihre Lieder? Bon letzterem hören wir hie und da, aber
selten genug, „Das Belieben", oder „Die Abendempfindung"; von ersterem
noch seltner „Sympathie" oder „Ein kleines Haus", alles Andere ist ver¬
schollen und doch wie viel des Köstlichsten findet sich in den Sammlungen
ihrer Gesänge, echte, unvergleichliche Liederperlen. Der Kenntniß unserer Zeit


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[0267] sondere dramatische Zuthat erdacht und besonders in der Begleitung so ein¬ gerichtet sein, daß der Sänger, ohne allzugroße Anforderung an sein Klavier¬ spiel zu machen, sich selbst accompagniren kann. Aber das sind Verhältniß- mäßig noch Nebendinge. Ein gutes Lied muß in erster Linie eine schöne, faßliche, charakteristische Melodie haben, eine Weise, die man gern singt und leicht behält. Diesen Erfordernissen eines guten Liedes entsprechen, wenn wir einen Blick aus unsere Liederliteratur werfen, meist die Lieder der älteren Zeit. Sie haben meist treffliche, sangbare, fließende, oft sehr ausdrucksvolle Melo¬ dien; dagegen sehr einfache, nicht selten ärmliche Begleitungen. Umgekehrt zeichnen sich die Lieder der neuen Zeit in der Regel durch ein interessantes oder interessant sein sollendes, reiches, überladenes Accompagnement aus, durch eine Klavierpartie, deren erträgliche Ausführung einen Künstler erfordert. Anders verhält es sich mit der Melodie; sie ist sehr häusig ärmlich, steif, un¬ sangbar, wenig ansprechend, gewöhnlich und ausdruckslos. Das gesunde Ver¬ hältniß hat sich also umgekehrt. Wir wollen durchaus das wahrhaft Gute unserer Zeit nicht verkennen, aber das Beste ist immer auch das Seltenste und wir glauben entschuldigt zu sein, wenn wir die Beweise für diese Behaup¬ tung damit beginnen, auf die zahlreichen trefflichen Leistungen einer früheren Periode aufmerksam zu machen. Da tritt uns zuerst als ältester Liedermeister I. Fr. Reichardt (1,752— 1814) entgegen, der eigentliche Schöpfer des modernen Liedes. Seine Com- positionen der Gedichte Goethe's und Schiller's umfassen allein sechs Bände (Leipzig, Breitkopf und Härtel), seine sonstigen Liedersätze zählen nach.Hunderten. Er hat das ganze Gebiet der Empfindung, alle Liedformen erschöpft, er ist so recht der Meister kunstgemäßer musikalischer Declamation. Aber wer singt seine Lieder noch? Und doch haben seine Melodien die oben aufgezählten Eigenschaften in hohem Grade. Reichardt hatte zwei berühmte Zeitgenossen, fruchtbar und tüchtig wie er, aber mit ihm vergessen, den Freund Schiller's: I. R. Zumsteeg (1760—1802), und-den Freund Goethe's: K. Fr. Zel¬ ter (17581—832). Zählen nun diese Namen unbestritten zu den besten ihrer Zeit, so gehören sie freilich nicht zu den größten ihrer Kunst und wir wollen einmal den Einwand gelten lassen, daß man kein allzugroßes Unrecht begangen habe, sie zu vergessen; wenngleich man ein vorzüglicher Liedercom- Ponist sein kann, ohne auch ein großer Componist zu sein. Aber denken wir an größere Namen: I. Haydn (1732—1809) und W. A. Mozart (1756— 1791). Wer singt ihre Lieder? Bon letzterem hören wir hie und da, aber selten genug, „Das Belieben", oder „Die Abendempfindung"; von ersterem noch seltner „Sympathie" oder „Ein kleines Haus", alles Andere ist ver¬ schollen und doch wie viel des Köstlichsten findet sich in den Sammlungen ihrer Gesänge, echte, unvergleichliche Liederperlen. Der Kenntniß unserer Zeit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/267>, abgerufen am 26.06.2024.