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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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sam zu machen, es unermüdlich auf das Treffliche hinzuweisen. Unsere Zeit
erweist sich zwar als eine Periode sehr zahlreicher und vielseitiger Produkti¬
vität, weniger aber als eine solche bedeutsamer, epochemachender Kunst¬
leistungen. Wir sind daher angewiesen, auf den Gebieten der Poesie und
Musik immer wieder auf die Schätze vergangener Tage zurückzugreifen. Und
wirklich scheint diese Art Schatzgräberei, bei der die Wünschelruthe nie täuscht,
dankbarer und verdienstlicher, als selbstschaffend aufzutreten. Da ist so un¬
endlich viel des Schönen und Guten vorhanden, von dem man nur den
Schutt und Staub hinwegzuräumen braucht, welche die Zeit und der unhar-
monische Spektakel der Jüngeren darüber häufte. Denken wir uns, in einer
guten, ehrenfester Familie stirbt eine alte Tante oder ein alter Onkel, der
Großvater, die Großmutter. Sie haben stille, ehrwürdige, stets verschlossen
gehaltene Häuser bewohnt. Mit einem Male öffnen sich die selten betretenen
Gemächer mit ihren wohlverwahrten Schränken und Truhen. Helles Tages¬
licht fällt in die bisher dunklen Räume, eine junge, heitere Welt theilt sich
in das Erbe. Die Familienheiligthümer, die Erbstücke, verschwiegene, heim¬
lich gehaltene, selten berührte Schätze werden hervorgezogen. Vom Keller bis
zum Speicher herrscht Ueberfluß, und wohin der Fuß tritt, wo die Hand
forscht, wo das überraschte Auge hinblickt, findet sich Beachtens- oder Bewun¬
dernswürdiges. Wie hier im gewöhnlichen Leben, so ist es auch auf dem
Gebiete der Literatur und Kunst. Tretet doch die Erbschaft der Ahnen an,
hebt die sagenhaften Schätze der Vorzeit, und dringt durch die verschlossenen
Thüren, räumt den Moder hinweg, betrachtet euch die wiedergewonnenen
Güter, und seht, wie sie im Licht der Sonne in unvergänglicher Farbenpracht
aufleuchten!

Wir wollen heute nur vonunseren Liedersängern sprechen. Das deutsche
Volk wird ja von Alters her als ein Volk des Gesanges gerühmt und ge¬
ehrt. Sein Liederschatz ist unerschöpflich und keine andere Nation kann sich
darin mit ihm auch nur annähernd vergleichen. Das Lied ist das ursprüng¬
lichste, einfachste und zarteste Product musikalischen Schaffens und die erste
und liebste Musik, die man im Hause hört. Wie fröhlich sind die Räume,
die durch die Lieder vieler Kinderstimmen belebt sind. Wie anmuthend und
rührend klingt es, die Mutter ein frommes Lied anstimmen zu hören! Wo
offenbaren sich die innigsten und geheimsten Regungen der Seele freier und
tröstlicher als im Liede? Unsere Lieder sind die Freude der Jugend', das
Entzücken der erwachten Empfindung, der Sporn zur Thätigkeit und zum
Ausharren in trüben Tagen, der Trost des Alters. Das Lied ist die eigent¬
lichste Hausmusik. Ein gutes Lied muß selbstverständlich einen guten Text haben,
aber zugleich auch vom Componisten innig, tief und warm empfunden sein. Es
darf keinen allzugroßen Stimmumfang beanspruchen, soll einfach und ohne be-


sam zu machen, es unermüdlich auf das Treffliche hinzuweisen. Unsere Zeit
erweist sich zwar als eine Periode sehr zahlreicher und vielseitiger Produkti¬
vität, weniger aber als eine solche bedeutsamer, epochemachender Kunst¬
leistungen. Wir sind daher angewiesen, auf den Gebieten der Poesie und
Musik immer wieder auf die Schätze vergangener Tage zurückzugreifen. Und
wirklich scheint diese Art Schatzgräberei, bei der die Wünschelruthe nie täuscht,
dankbarer und verdienstlicher, als selbstschaffend aufzutreten. Da ist so un¬
endlich viel des Schönen und Guten vorhanden, von dem man nur den
Schutt und Staub hinwegzuräumen braucht, welche die Zeit und der unhar-
monische Spektakel der Jüngeren darüber häufte. Denken wir uns, in einer
guten, ehrenfester Familie stirbt eine alte Tante oder ein alter Onkel, der
Großvater, die Großmutter. Sie haben stille, ehrwürdige, stets verschlossen
gehaltene Häuser bewohnt. Mit einem Male öffnen sich die selten betretenen
Gemächer mit ihren wohlverwahrten Schränken und Truhen. Helles Tages¬
licht fällt in die bisher dunklen Räume, eine junge, heitere Welt theilt sich
in das Erbe. Die Familienheiligthümer, die Erbstücke, verschwiegene, heim¬
lich gehaltene, selten berührte Schätze werden hervorgezogen. Vom Keller bis
zum Speicher herrscht Ueberfluß, und wohin der Fuß tritt, wo die Hand
forscht, wo das überraschte Auge hinblickt, findet sich Beachtens- oder Bewun¬
dernswürdiges. Wie hier im gewöhnlichen Leben, so ist es auch auf dem
Gebiete der Literatur und Kunst. Tretet doch die Erbschaft der Ahnen an,
hebt die sagenhaften Schätze der Vorzeit, und dringt durch die verschlossenen
Thüren, räumt den Moder hinweg, betrachtet euch die wiedergewonnenen
Güter, und seht, wie sie im Licht der Sonne in unvergänglicher Farbenpracht
aufleuchten!

Wir wollen heute nur vonunseren Liedersängern sprechen. Das deutsche
Volk wird ja von Alters her als ein Volk des Gesanges gerühmt und ge¬
ehrt. Sein Liederschatz ist unerschöpflich und keine andere Nation kann sich
darin mit ihm auch nur annähernd vergleichen. Das Lied ist das ursprüng¬
lichste, einfachste und zarteste Product musikalischen Schaffens und die erste
und liebste Musik, die man im Hause hört. Wie fröhlich sind die Räume,
die durch die Lieder vieler Kinderstimmen belebt sind. Wie anmuthend und
rührend klingt es, die Mutter ein frommes Lied anstimmen zu hören! Wo
offenbaren sich die innigsten und geheimsten Regungen der Seele freier und
tröstlicher als im Liede? Unsere Lieder sind die Freude der Jugend', das
Entzücken der erwachten Empfindung, der Sporn zur Thätigkeit und zum
Ausharren in trüben Tagen, der Trost des Alters. Das Lied ist die eigent¬
lichste Hausmusik. Ein gutes Lied muß selbstverständlich einen guten Text haben,
aber zugleich auch vom Componisten innig, tief und warm empfunden sein. Es
darf keinen allzugroßen Stimmumfang beanspruchen, soll einfach und ohne be-


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[0266] sam zu machen, es unermüdlich auf das Treffliche hinzuweisen. Unsere Zeit erweist sich zwar als eine Periode sehr zahlreicher und vielseitiger Produkti¬ vität, weniger aber als eine solche bedeutsamer, epochemachender Kunst¬ leistungen. Wir sind daher angewiesen, auf den Gebieten der Poesie und Musik immer wieder auf die Schätze vergangener Tage zurückzugreifen. Und wirklich scheint diese Art Schatzgräberei, bei der die Wünschelruthe nie täuscht, dankbarer und verdienstlicher, als selbstschaffend aufzutreten. Da ist so un¬ endlich viel des Schönen und Guten vorhanden, von dem man nur den Schutt und Staub hinwegzuräumen braucht, welche die Zeit und der unhar- monische Spektakel der Jüngeren darüber häufte. Denken wir uns, in einer guten, ehrenfester Familie stirbt eine alte Tante oder ein alter Onkel, der Großvater, die Großmutter. Sie haben stille, ehrwürdige, stets verschlossen gehaltene Häuser bewohnt. Mit einem Male öffnen sich die selten betretenen Gemächer mit ihren wohlverwahrten Schränken und Truhen. Helles Tages¬ licht fällt in die bisher dunklen Räume, eine junge, heitere Welt theilt sich in das Erbe. Die Familienheiligthümer, die Erbstücke, verschwiegene, heim¬ lich gehaltene, selten berührte Schätze werden hervorgezogen. Vom Keller bis zum Speicher herrscht Ueberfluß, und wohin der Fuß tritt, wo die Hand forscht, wo das überraschte Auge hinblickt, findet sich Beachtens- oder Bewun¬ dernswürdiges. Wie hier im gewöhnlichen Leben, so ist es auch auf dem Gebiete der Literatur und Kunst. Tretet doch die Erbschaft der Ahnen an, hebt die sagenhaften Schätze der Vorzeit, und dringt durch die verschlossenen Thüren, räumt den Moder hinweg, betrachtet euch die wiedergewonnenen Güter, und seht, wie sie im Licht der Sonne in unvergänglicher Farbenpracht aufleuchten! Wir wollen heute nur vonunseren Liedersängern sprechen. Das deutsche Volk wird ja von Alters her als ein Volk des Gesanges gerühmt und ge¬ ehrt. Sein Liederschatz ist unerschöpflich und keine andere Nation kann sich darin mit ihm auch nur annähernd vergleichen. Das Lied ist das ursprüng¬ lichste, einfachste und zarteste Product musikalischen Schaffens und die erste und liebste Musik, die man im Hause hört. Wie fröhlich sind die Räume, die durch die Lieder vieler Kinderstimmen belebt sind. Wie anmuthend und rührend klingt es, die Mutter ein frommes Lied anstimmen zu hören! Wo offenbaren sich die innigsten und geheimsten Regungen der Seele freier und tröstlicher als im Liede? Unsere Lieder sind die Freude der Jugend', das Entzücken der erwachten Empfindung, der Sporn zur Thätigkeit und zum Ausharren in trüben Tagen, der Trost des Alters. Das Lied ist die eigent¬ lichste Hausmusik. Ein gutes Lied muß selbstverständlich einen guten Text haben, aber zugleich auch vom Componisten innig, tief und warm empfunden sein. Es darf keinen allzugroßen Stimmumfang beanspruchen, soll einfach und ohne be-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/266>, abgerufen am 26.06.2024.