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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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vieren liegen sie einträchtig neben den Werken Bach's, Mozart's und Beetho¬
ven's, bilden sie gleich und mit diesen eine Quelle reiner Freuden und be¬
glückender Genüsse. Es ist ein beklagenswerther Umstand, daß die ausschließe
lich musikalischen Zeitungen, wie alle Fachblätter, nur einen so beschränkten
Leserkreis haben, und andererseits die weitverbreiteten Journale nur selten
und widerstrebend sich zur Aufnahme musikalischer Abhandlungen entschließen.
Gewöhnlich werden solche Aufsätze als zu umfangreich zurückgewiesen, aber
grade hier, wo schwer zu schildernde Tonverbindungen durch Worte zu er-
läutern sind, eine Kunstübung darzustellen ist. die fast nur mit abstracten
Dingen zu thun hat, ist man häusig genöthigt -- soll anders die Verständlich¬
keit nicht beeinträchtigt werden -- zu Umschreibungen seine Zuflucht zu nehmen.

Die musikalischen Anschauungen aber zu klären und zu erweitern, ist
heute mehr als je nothwendig. Keine Kunst ist so allgemein geworden, keine
wird so vielfach mißverstanden, keine so oberflächlich beurtheilt, keine so Mangel-
haft betrieben. Zweck dieser Zeilen ist, durch einige Winke, die zugleich für
das ganze gebildete Publikum von Interesse sein dürsten, fördernd auf den
musikalischen Geschmack, auf die Musikpflege und Kunstübung, vornehmlich
aber auf die Hausmusik einzuwirken; dieses auf hervorragende und bedeutende
Publikationen aufmerksam zu machen, die vorzugsweise zur Hausmusik sich
eignen, und in erster Linie das musikalische Familienleben genußreich und er¬
sprießlich zu machen vermögen. Man darf annehmen, daß in jedem guten
Hause, in jeder gebildeten Familie musicirt wird. Vielfach bringt man die
größten Opfer für den Musikunterricht. Schulen und Vereine wetteifern mit
der Familie in der Belebung einer künstlerischen Thätigkeit, welcher die Philo¬
sophen des Alterthums, wie die Pädagogik der neuen Zeit so außerordentliche
Wirkungen auf Geist und Herz nachrühmen. Folge der großen Nachfrage
nach Novitäten ist die ganz erstaunliche, fast krankhafte Productivität auf
musikalischen Gebiete, eine Productivität, die weitaus die jedes andern Lite¬
raturzweiges überflügelt hat und für sich allein fast eben so viel auf den Markt
bringt, als der gesammte übrige Buch- und Kunsthandel. Dieser unnatür¬
lichen Fruchtbarkeit gegenüber thut ein Sichten und Ausscheiden, eine Son¬
derung des Besten und Guten vom Mittelmäßigen und Schlechten doppelt
noth. Man kann getrost behaupten, daß dem herrschenden Bedürfniß auch
dann noch ein Genüge geschähe, wenn nur der fünfte, ja der zehnte Theil
des Erscheinenden, aber dann in besserer Auswahl, wirklich erschiene. Was
unter solchen Umständen an die Oeffentlichkeit tritt, wird sofort überfluthet
und von dem Nachfolgenden in Vergessenheit zurückgedrängt und selbst die
Namen und Werke der hervorragenderen unter den neueren Tonsetzern ver¬
mögen sich nur mühsam auf der Oberfläche zu halten. Um so wichtiger er¬
scheint, das große Publikum immer wieder auf das wahrhaft Gute aufmerk-


vieren liegen sie einträchtig neben den Werken Bach's, Mozart's und Beetho¬
ven's, bilden sie gleich und mit diesen eine Quelle reiner Freuden und be¬
glückender Genüsse. Es ist ein beklagenswerther Umstand, daß die ausschließe
lich musikalischen Zeitungen, wie alle Fachblätter, nur einen so beschränkten
Leserkreis haben, und andererseits die weitverbreiteten Journale nur selten
und widerstrebend sich zur Aufnahme musikalischer Abhandlungen entschließen.
Gewöhnlich werden solche Aufsätze als zu umfangreich zurückgewiesen, aber
grade hier, wo schwer zu schildernde Tonverbindungen durch Worte zu er-
läutern sind, eine Kunstübung darzustellen ist. die fast nur mit abstracten
Dingen zu thun hat, ist man häusig genöthigt — soll anders die Verständlich¬
keit nicht beeinträchtigt werden — zu Umschreibungen seine Zuflucht zu nehmen.

Die musikalischen Anschauungen aber zu klären und zu erweitern, ist
heute mehr als je nothwendig. Keine Kunst ist so allgemein geworden, keine
wird so vielfach mißverstanden, keine so oberflächlich beurtheilt, keine so Mangel-
haft betrieben. Zweck dieser Zeilen ist, durch einige Winke, die zugleich für
das ganze gebildete Publikum von Interesse sein dürsten, fördernd auf den
musikalischen Geschmack, auf die Musikpflege und Kunstübung, vornehmlich
aber auf die Hausmusik einzuwirken; dieses auf hervorragende und bedeutende
Publikationen aufmerksam zu machen, die vorzugsweise zur Hausmusik sich
eignen, und in erster Linie das musikalische Familienleben genußreich und er¬
sprießlich zu machen vermögen. Man darf annehmen, daß in jedem guten
Hause, in jeder gebildeten Familie musicirt wird. Vielfach bringt man die
größten Opfer für den Musikunterricht. Schulen und Vereine wetteifern mit
der Familie in der Belebung einer künstlerischen Thätigkeit, welcher die Philo¬
sophen des Alterthums, wie die Pädagogik der neuen Zeit so außerordentliche
Wirkungen auf Geist und Herz nachrühmen. Folge der großen Nachfrage
nach Novitäten ist die ganz erstaunliche, fast krankhafte Productivität auf
musikalischen Gebiete, eine Productivität, die weitaus die jedes andern Lite¬
raturzweiges überflügelt hat und für sich allein fast eben so viel auf den Markt
bringt, als der gesammte übrige Buch- und Kunsthandel. Dieser unnatür¬
lichen Fruchtbarkeit gegenüber thut ein Sichten und Ausscheiden, eine Son¬
derung des Besten und Guten vom Mittelmäßigen und Schlechten doppelt
noth. Man kann getrost behaupten, daß dem herrschenden Bedürfniß auch
dann noch ein Genüge geschähe, wenn nur der fünfte, ja der zehnte Theil
des Erscheinenden, aber dann in besserer Auswahl, wirklich erschiene. Was
unter solchen Umständen an die Oeffentlichkeit tritt, wird sofort überfluthet
und von dem Nachfolgenden in Vergessenheit zurückgedrängt und selbst die
Namen und Werke der hervorragenderen unter den neueren Tonsetzern ver¬
mögen sich nur mühsam auf der Oberfläche zu halten. Um so wichtiger er¬
scheint, das große Publikum immer wieder auf das wahrhaft Gute aufmerk-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/265>, abgerufen am 26.06.2024.