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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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und Piacenza nach dem Canton Tessin in der Schweiz geflüchtet hatten,
kamen in Santa Lucia zusammen, um bewaffnet nach dem Königreiche zurück¬
zukehren. Ihr Führer war der Engländer Josef Nathan; sie waren mit
schweizerischen Hinterladern oder mit Revolvern bewaffnet. Mit einer rothen
Fahne, auf der die Worte: "Gott und Volk" zu lesen waren, passirte die
Bande die Grenze bei den Höhen von Acqua Sesia, nahm in Porlezzain der
Kaserne der Zollwache Munition und einige Waffen weg, fuhr dann über
den Comer See und schloß ihre ruhmvolle Laufbahn durch einen Abstecher in
die Provinz Sondrio, wo sie sich vor den sie verfolgenden Truppen zerstreute.
Solchen Pulsader folgten Drohungen und Einschüchterungsversuche, um den
Lauf der Justiz zu hemmen. So erhielt, der Vicepräsident des Zuchtpolizei¬
gerichts in Mailand, Dr. Biella, mittelst der Post ein anonymes Schreiben,
das an die Schauerzeiten der Nehmgerichte erinnert. Es war mit einer Marke
versehen, die einen mit zwei Dolchen durchbohrten Schädel und die Rund¬
schrift: IloäiL midi, ciÄS tibi (heute mir, morgen dir) zeigte. Dann folgten
nachstehende Worte: "Bürger Biella. Das oberste Volksgericht, das Grasselli,
Locatelli und Escossier abgeurtheilt hat, hat auch Sie als eine des gleichen
Schicksals würdige Persönlichkeit bezeichnet, und die Todesstrafe gegen Sie er¬
kannt, die noch im Laufe dieses Jahres zur Vollstreckung gelangen wird.
Auch wurden Sie des Charakters eines Bürgers entkleidet, und den Voll¬
streckern der Volksjustiz anheimgegeben. Möge Ihnen die Erde leicht sein."
Demselben Beamten sind noch mehrere solche Drohbriefe zugekommen. Weiter
hatte es keinen Zweck.

In den ersten Tagen des August wurde vor dem Asstsenhof in Genua
der Proceß gegen Luigi Stollo und Genossen geführt, die des Attentats gegen
die innere Sicherheit des Staates durch die Bildung einer bewaffneten Bande
angeklagt waren. Schon während der Debatten, die mit der Verurtheilung
Stollo's zu sechsmonatlicher und seiner Genossen zu zwei- und dreimonatlicher
und zehntägiger Haft geendet hatten, wurde die Escorte, welche die Verhaf¬
teten vom Gefängniß nach dem Gerichtshofe und zurück brachte, wiederholt an¬
gegriffen; auch gegen den Staatsanwalt und die Geschworenen fanden De¬
monstrationen zur Einschüchterung statt. Als das Verdict der Geschworenen
bekannt wurde, brach zuerst ein heftiger Tumult im Gerichtssaale aus, der
auf Befehl des Präsidenten geräumt wurde; sodann entstanden Tumulte in
den Nachbarstraßen und vier Barrikaden wurden errichtet. Die Truppen
rückten sofort aus, drei Barrikaden wurden genommen und die Tumultuanten
zerstreut; an der vierten wurden die Truppen mit einem Steinhagel em¬
pfangen, wobei ein Sergeant schwer verletzt wurde. Nun mußte von den
Waffen Gebrauch gemacht werden, einer der Aufrührer fiel im Kampfe, ein


und Piacenza nach dem Canton Tessin in der Schweiz geflüchtet hatten,
kamen in Santa Lucia zusammen, um bewaffnet nach dem Königreiche zurück¬
zukehren. Ihr Führer war der Engländer Josef Nathan; sie waren mit
schweizerischen Hinterladern oder mit Revolvern bewaffnet. Mit einer rothen
Fahne, auf der die Worte: „Gott und Volk" zu lesen waren, passirte die
Bande die Grenze bei den Höhen von Acqua Sesia, nahm in Porlezzain der
Kaserne der Zollwache Munition und einige Waffen weg, fuhr dann über
den Comer See und schloß ihre ruhmvolle Laufbahn durch einen Abstecher in
die Provinz Sondrio, wo sie sich vor den sie verfolgenden Truppen zerstreute.
Solchen Pulsader folgten Drohungen und Einschüchterungsversuche, um den
Lauf der Justiz zu hemmen. So erhielt, der Vicepräsident des Zuchtpolizei¬
gerichts in Mailand, Dr. Biella, mittelst der Post ein anonymes Schreiben,
das an die Schauerzeiten der Nehmgerichte erinnert. Es war mit einer Marke
versehen, die einen mit zwei Dolchen durchbohrten Schädel und die Rund¬
schrift: IloäiL midi, ciÄS tibi (heute mir, morgen dir) zeigte. Dann folgten
nachstehende Worte: „Bürger Biella. Das oberste Volksgericht, das Grasselli,
Locatelli und Escossier abgeurtheilt hat, hat auch Sie als eine des gleichen
Schicksals würdige Persönlichkeit bezeichnet, und die Todesstrafe gegen Sie er¬
kannt, die noch im Laufe dieses Jahres zur Vollstreckung gelangen wird.
Auch wurden Sie des Charakters eines Bürgers entkleidet, und den Voll¬
streckern der Volksjustiz anheimgegeben. Möge Ihnen die Erde leicht sein."
Demselben Beamten sind noch mehrere solche Drohbriefe zugekommen. Weiter
hatte es keinen Zweck.

In den ersten Tagen des August wurde vor dem Asstsenhof in Genua
der Proceß gegen Luigi Stollo und Genossen geführt, die des Attentats gegen
die innere Sicherheit des Staates durch die Bildung einer bewaffneten Bande
angeklagt waren. Schon während der Debatten, die mit der Verurtheilung
Stollo's zu sechsmonatlicher und seiner Genossen zu zwei- und dreimonatlicher
und zehntägiger Haft geendet hatten, wurde die Escorte, welche die Verhaf¬
teten vom Gefängniß nach dem Gerichtshofe und zurück brachte, wiederholt an¬
gegriffen; auch gegen den Staatsanwalt und die Geschworenen fanden De¬
monstrationen zur Einschüchterung statt. Als das Verdict der Geschworenen
bekannt wurde, brach zuerst ein heftiger Tumult im Gerichtssaale aus, der
auf Befehl des Präsidenten geräumt wurde; sodann entstanden Tumulte in
den Nachbarstraßen und vier Barrikaden wurden errichtet. Die Truppen
rückten sofort aus, drei Barrikaden wurden genommen und die Tumultuanten
zerstreut; an der vierten wurden die Truppen mit einem Steinhagel em¬
pfangen, wobei ein Sergeant schwer verletzt wurde. Nun mußte von den
Waffen Gebrauch gemacht werden, einer der Aufrührer fiel im Kampfe, ein


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/255>, abgerufen am 26.06.2024.