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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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von Oben, mehr aberZ noch fehlte den Mitgliedern des früheren Ministeriums in
Folge ihrer vielfachen politischen Schwankungen, ihres bisherigen Haschens
nach Popularität und ihres Liebäugelns mit der Demokratie jene Ueber¬
zeugungstreue, welche allein große Entschlüsse reift. Aus demselben Grund
war aber auch von einer Auflösung der Stände nichts zu erwarten, da zur
Zeit der "Militarismus" und die "Steuerschraube" ein zu dankbares Hetzmit¬
tel der östreichisch-französischen Partei im Lande war, von welchem man eben
zuvor noch selbst Gebrauch gemacht hatte.

Man setzte daher die einzige und letzte Hoffnung auf das althergebrachte
Mittel der persönlichen Einwirkung auf einzelne schwächere Mitglieder der
Majorität, wobei man sich im äußersten Fall vorbehielt, durch die Aufnahme
eines Angehörigen des der Mehrzahl nach aus Portefeuilleaspiranten bestehenden
großdeutschcn Klubs in das Ministerium die Gegner zu sprengen, und den
drohenden Sturm zu beschwichtigen.

Während hiernach die Regierung mit Sorge und Beklemmung dem Zu¬
sammentritt der Stände entgegensah, zumal die Fortschritte der Patrioten in
Bayern ihre Alliirten in Schwaben mit neuer Siegeszuversicht erfüllten, arbeitete
inzwischen in Stuttgart der Berichterstatter der aus lauter Gegnern der Re¬
gierung zusammengesetzten Finanzcommission, Fricker, eine bisher dunkle
Größe, nur bekannt als der "große Staatsrechtslehrer" des Beobachters, an
einem endlosen Bericht über die Militärfrage, nach dem Muster des bayerischen
Abgeordneten Kolb.

So lagen die Verhältnisse im Juli v. I.: Regierung und Stände waren
entzweit, die Bevölkerung durch alle Classen aufs Tiefste unterwühlt, eine
Katastrophe schien nach der einen oder anderen Richtung kaum zu vermeiden,
als die französische Kriegserklärung plötzlich die ganze Situation veränderte.
Daß man in Paris auf die geschilderten Zustände, namentlich auf die für den
ersten Anblick zweifellose Herrschaft der demokratisch-ultramontanen Partei in
Schwaben und Bayern bestimmt rechnete, steht fest, ebenso gewiß ist aber,
daß, von den Machinationen einzelner Führer abgesehen, die große Masse
der Bevölkerung trotz allen Räsonnirens über Cäsarismus und Militarismus
an den nahe liegenden Zusammenhang dieser Agitation mit den französischen
Interessen gar nicht gedacht hatte. Ein panischer Schrecken erfüllte zunächst
das ganze Land; man erinnerte sich wieder der Raubzüge eines Turenne.
Melac und Moreau, und berechnete, daß nach den Erfahrungen früherer
Jahrhunderte den Franzosen nicht schwer fallen werde, in 24 Stunden das
Land zu überschwemmen: man wartete nach den früheren Vorgängen nicht
einmal auf die formelle Kriegserklärung, fondern vergrub schon vorher die
Werthsachen, oder schickte sie in die Schweiz. Der "Beobachter" empfahl zwar
"nur kalt zu bleiben", und befürwortete, mit den bayrischen Patrioten, Neu-


Grenzbotcn l. 1871. 31

von Oben, mehr aberZ noch fehlte den Mitgliedern des früheren Ministeriums in
Folge ihrer vielfachen politischen Schwankungen, ihres bisherigen Haschens
nach Popularität und ihres Liebäugelns mit der Demokratie jene Ueber¬
zeugungstreue, welche allein große Entschlüsse reift. Aus demselben Grund
war aber auch von einer Auflösung der Stände nichts zu erwarten, da zur
Zeit der „Militarismus" und die „Steuerschraube" ein zu dankbares Hetzmit¬
tel der östreichisch-französischen Partei im Lande war, von welchem man eben
zuvor noch selbst Gebrauch gemacht hatte.

Man setzte daher die einzige und letzte Hoffnung auf das althergebrachte
Mittel der persönlichen Einwirkung auf einzelne schwächere Mitglieder der
Majorität, wobei man sich im äußersten Fall vorbehielt, durch die Aufnahme
eines Angehörigen des der Mehrzahl nach aus Portefeuilleaspiranten bestehenden
großdeutschcn Klubs in das Ministerium die Gegner zu sprengen, und den
drohenden Sturm zu beschwichtigen.

Während hiernach die Regierung mit Sorge und Beklemmung dem Zu¬
sammentritt der Stände entgegensah, zumal die Fortschritte der Patrioten in
Bayern ihre Alliirten in Schwaben mit neuer Siegeszuversicht erfüllten, arbeitete
inzwischen in Stuttgart der Berichterstatter der aus lauter Gegnern der Re¬
gierung zusammengesetzten Finanzcommission, Fricker, eine bisher dunkle
Größe, nur bekannt als der „große Staatsrechtslehrer" des Beobachters, an
einem endlosen Bericht über die Militärfrage, nach dem Muster des bayerischen
Abgeordneten Kolb.

So lagen die Verhältnisse im Juli v. I.: Regierung und Stände waren
entzweit, die Bevölkerung durch alle Classen aufs Tiefste unterwühlt, eine
Katastrophe schien nach der einen oder anderen Richtung kaum zu vermeiden,
als die französische Kriegserklärung plötzlich die ganze Situation veränderte.
Daß man in Paris auf die geschilderten Zustände, namentlich auf die für den
ersten Anblick zweifellose Herrschaft der demokratisch-ultramontanen Partei in
Schwaben und Bayern bestimmt rechnete, steht fest, ebenso gewiß ist aber,
daß, von den Machinationen einzelner Führer abgesehen, die große Masse
der Bevölkerung trotz allen Räsonnirens über Cäsarismus und Militarismus
an den nahe liegenden Zusammenhang dieser Agitation mit den französischen
Interessen gar nicht gedacht hatte. Ein panischer Schrecken erfüllte zunächst
das ganze Land; man erinnerte sich wieder der Raubzüge eines Turenne.
Melac und Moreau, und berechnete, daß nach den Erfahrungen früherer
Jahrhunderte den Franzosen nicht schwer fallen werde, in 24 Stunden das
Land zu überschwemmen: man wartete nach den früheren Vorgängen nicht
einmal auf die formelle Kriegserklärung, fondern vergrub schon vorher die
Werthsachen, oder schickte sie in die Schweiz. Der „Beobachter" empfahl zwar
„nur kalt zu bleiben", und befürwortete, mit den bayrischen Patrioten, Neu-


Grenzbotcn l. 1871. 31
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[0245] von Oben, mehr aberZ noch fehlte den Mitgliedern des früheren Ministeriums in Folge ihrer vielfachen politischen Schwankungen, ihres bisherigen Haschens nach Popularität und ihres Liebäugelns mit der Demokratie jene Ueber¬ zeugungstreue, welche allein große Entschlüsse reift. Aus demselben Grund war aber auch von einer Auflösung der Stände nichts zu erwarten, da zur Zeit der „Militarismus" und die „Steuerschraube" ein zu dankbares Hetzmit¬ tel der östreichisch-französischen Partei im Lande war, von welchem man eben zuvor noch selbst Gebrauch gemacht hatte. Man setzte daher die einzige und letzte Hoffnung auf das althergebrachte Mittel der persönlichen Einwirkung auf einzelne schwächere Mitglieder der Majorität, wobei man sich im äußersten Fall vorbehielt, durch die Aufnahme eines Angehörigen des der Mehrzahl nach aus Portefeuilleaspiranten bestehenden großdeutschcn Klubs in das Ministerium die Gegner zu sprengen, und den drohenden Sturm zu beschwichtigen. Während hiernach die Regierung mit Sorge und Beklemmung dem Zu¬ sammentritt der Stände entgegensah, zumal die Fortschritte der Patrioten in Bayern ihre Alliirten in Schwaben mit neuer Siegeszuversicht erfüllten, arbeitete inzwischen in Stuttgart der Berichterstatter der aus lauter Gegnern der Re¬ gierung zusammengesetzten Finanzcommission, Fricker, eine bisher dunkle Größe, nur bekannt als der „große Staatsrechtslehrer" des Beobachters, an einem endlosen Bericht über die Militärfrage, nach dem Muster des bayerischen Abgeordneten Kolb. So lagen die Verhältnisse im Juli v. I.: Regierung und Stände waren entzweit, die Bevölkerung durch alle Classen aufs Tiefste unterwühlt, eine Katastrophe schien nach der einen oder anderen Richtung kaum zu vermeiden, als die französische Kriegserklärung plötzlich die ganze Situation veränderte. Daß man in Paris auf die geschilderten Zustände, namentlich auf die für den ersten Anblick zweifellose Herrschaft der demokratisch-ultramontanen Partei in Schwaben und Bayern bestimmt rechnete, steht fest, ebenso gewiß ist aber, daß, von den Machinationen einzelner Führer abgesehen, die große Masse der Bevölkerung trotz allen Räsonnirens über Cäsarismus und Militarismus an den nahe liegenden Zusammenhang dieser Agitation mit den französischen Interessen gar nicht gedacht hatte. Ein panischer Schrecken erfüllte zunächst das ganze Land; man erinnerte sich wieder der Raubzüge eines Turenne. Melac und Moreau, und berechnete, daß nach den Erfahrungen früherer Jahrhunderte den Franzosen nicht schwer fallen werde, in 24 Stunden das Land zu überschwemmen: man wartete nach den früheren Vorgängen nicht einmal auf die formelle Kriegserklärung, fondern vergrub schon vorher die Werthsachen, oder schickte sie in die Schweiz. Der „Beobachter" empfahl zwar „nur kalt zu bleiben", und befürwortete, mit den bayrischen Patrioten, Neu- Grenzbotcn l. 1871. 31

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/245>, abgerufen am 28.09.2024.