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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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Volkspolitik, im Uebrigen ohne politischen Standpunkt, ein Mann der Situa¬
tion und der bureaukratischen Carriere. Durch einige Männer dagegen,
welche neben Golther die hauptsächlichen Träger der bisherigen Politik und
vermöge ihrer parlamentarischen Stellung am meisten für dieselbe verant¬
wortlich zu machen waren, v. Varnbüler und Mittnacht, blieben merkwürdi¬
gerweise nach wie vor die Leiter der Württembergischen Geschicke. Demokraten
und Ultramontane knirschten natürlich vor Wuth. Der ganze Erfolg einer
monatelangen, alle Parteikräfte absorbirenden Agitation schien zunächst ver¬
eitelt, da man gegenüber der Energie, welche der neue Minister des Innern
befürchten ließ, auf eine active Bethätigung des Volkswillens zu Gunsten der
bisherigen Führer nicht rechnen konnte. Die ganze Hoffnung der schwäbischen
Volkspartei beruhte jetzt auf der Berathung des Etats, welche verfassungs¬
mäßig die Wiedereinberufung der nach der Neubildung des Ministeriums sofort
vertagten Stände binnen weniger Monate nothwendig machte.

Zunächst trat nach den Kämpfen der letzten Wochen eine gewisse Abspannung,
und folgeweise Waffenruhe unter den streitenden Parteien ein. Das neue Mini¬
sterium hatte sich zu constituiren, namentlich über seine künftige Haltung
gegenüber der Kammer sich zu verständigen. Hierzu bot die Revision des
Etats den nächsten Anlaß. Es galt zunächst, das Deficit um jeden Preis,
wenn auch nicht zu beseitigen, so doch zu vermindern. Man hatte von
Seiten der Minister -- wir erinnern nur an die Rede v. Varnbülers vom
11. December 1867, an die Wahlrede Mittnachts in Mergentheim vom
Juli 1868 -- das Volk so vielfach mit den preußischen Stcuerverhältnissen
geängstigt, man hatte sogar erst neuerdings (1868) in dem von einer Regie¬
rungscommission ausgearbeiteten "Lesebuch für die evangelischen Volksschulen" in
höchst gehässiger Weise die Württembergischen Steuern den Preußischen unter
sichtbar ungenauen Zahlenangaben entgegengestellt, um die heranwachsende
Jugend mit Preußenhaß zu erfüllen, und fühlte sich nun doppelt beschämt
durch die schwäbische Finanzlage. Den wahren Grund derselben, die kopflose
Eisenbahnpolitik, wollte man auch jetzt nicht eingestehen' da ein Umkehren
nicht mehr möglich war, und man gerade mit ihrer Hilfe einige der 45 Abge¬
ordneten auf die Negierungsseite zu ziehen hoffte. Es gelang denn auch durch
Anwendung der raffinirtesten Sparsamkeit, durch welche namentlich die Kriegs¬
bereitschaft des Heeres ernstlich bedroht wurde, sowie durch verschiedene Rech¬
nungsoperationen das Deficit um ein Erhebliches zu mindern.

War aber hiervon ein ernstlicher Erfolg gegenüber der zur Zeit der Blüthe
des Preußenhasses gewählten Ständeversammlung zu erwarten? Vor einem Staats¬
streich schreckten die Herrn v. Varnbüler, Mittnacht und Geßler entschieden
zurück, wenn auch Herr v, Scheurlen sich weniger Gewissensscrupel aus einem
solchen gemacht hätte. Dazu fehlte vor Allem der nöthige Rückhalt


Volkspolitik, im Uebrigen ohne politischen Standpunkt, ein Mann der Situa¬
tion und der bureaukratischen Carriere. Durch einige Männer dagegen,
welche neben Golther die hauptsächlichen Träger der bisherigen Politik und
vermöge ihrer parlamentarischen Stellung am meisten für dieselbe verant¬
wortlich zu machen waren, v. Varnbüler und Mittnacht, blieben merkwürdi¬
gerweise nach wie vor die Leiter der Württembergischen Geschicke. Demokraten
und Ultramontane knirschten natürlich vor Wuth. Der ganze Erfolg einer
monatelangen, alle Parteikräfte absorbirenden Agitation schien zunächst ver¬
eitelt, da man gegenüber der Energie, welche der neue Minister des Innern
befürchten ließ, auf eine active Bethätigung des Volkswillens zu Gunsten der
bisherigen Führer nicht rechnen konnte. Die ganze Hoffnung der schwäbischen
Volkspartei beruhte jetzt auf der Berathung des Etats, welche verfassungs¬
mäßig die Wiedereinberufung der nach der Neubildung des Ministeriums sofort
vertagten Stände binnen weniger Monate nothwendig machte.

Zunächst trat nach den Kämpfen der letzten Wochen eine gewisse Abspannung,
und folgeweise Waffenruhe unter den streitenden Parteien ein. Das neue Mini¬
sterium hatte sich zu constituiren, namentlich über seine künftige Haltung
gegenüber der Kammer sich zu verständigen. Hierzu bot die Revision des
Etats den nächsten Anlaß. Es galt zunächst, das Deficit um jeden Preis,
wenn auch nicht zu beseitigen, so doch zu vermindern. Man hatte von
Seiten der Minister — wir erinnern nur an die Rede v. Varnbülers vom
11. December 1867, an die Wahlrede Mittnachts in Mergentheim vom
Juli 1868 — das Volk so vielfach mit den preußischen Stcuerverhältnissen
geängstigt, man hatte sogar erst neuerdings (1868) in dem von einer Regie¬
rungscommission ausgearbeiteten „Lesebuch für die evangelischen Volksschulen" in
höchst gehässiger Weise die Württembergischen Steuern den Preußischen unter
sichtbar ungenauen Zahlenangaben entgegengestellt, um die heranwachsende
Jugend mit Preußenhaß zu erfüllen, und fühlte sich nun doppelt beschämt
durch die schwäbische Finanzlage. Den wahren Grund derselben, die kopflose
Eisenbahnpolitik, wollte man auch jetzt nicht eingestehen' da ein Umkehren
nicht mehr möglich war, und man gerade mit ihrer Hilfe einige der 45 Abge¬
ordneten auf die Negierungsseite zu ziehen hoffte. Es gelang denn auch durch
Anwendung der raffinirtesten Sparsamkeit, durch welche namentlich die Kriegs¬
bereitschaft des Heeres ernstlich bedroht wurde, sowie durch verschiedene Rech¬
nungsoperationen das Deficit um ein Erhebliches zu mindern.

War aber hiervon ein ernstlicher Erfolg gegenüber der zur Zeit der Blüthe
des Preußenhasses gewählten Ständeversammlung zu erwarten? Vor einem Staats¬
streich schreckten die Herrn v. Varnbüler, Mittnacht und Geßler entschieden
zurück, wenn auch Herr v, Scheurlen sich weniger Gewissensscrupel aus einem
solchen gemacht hätte. Dazu fehlte vor Allem der nöthige Rückhalt


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[0244] Volkspolitik, im Uebrigen ohne politischen Standpunkt, ein Mann der Situa¬ tion und der bureaukratischen Carriere. Durch einige Männer dagegen, welche neben Golther die hauptsächlichen Träger der bisherigen Politik und vermöge ihrer parlamentarischen Stellung am meisten für dieselbe verant¬ wortlich zu machen waren, v. Varnbüler und Mittnacht, blieben merkwürdi¬ gerweise nach wie vor die Leiter der Württembergischen Geschicke. Demokraten und Ultramontane knirschten natürlich vor Wuth. Der ganze Erfolg einer monatelangen, alle Parteikräfte absorbirenden Agitation schien zunächst ver¬ eitelt, da man gegenüber der Energie, welche der neue Minister des Innern befürchten ließ, auf eine active Bethätigung des Volkswillens zu Gunsten der bisherigen Führer nicht rechnen konnte. Die ganze Hoffnung der schwäbischen Volkspartei beruhte jetzt auf der Berathung des Etats, welche verfassungs¬ mäßig die Wiedereinberufung der nach der Neubildung des Ministeriums sofort vertagten Stände binnen weniger Monate nothwendig machte. Zunächst trat nach den Kämpfen der letzten Wochen eine gewisse Abspannung, und folgeweise Waffenruhe unter den streitenden Parteien ein. Das neue Mini¬ sterium hatte sich zu constituiren, namentlich über seine künftige Haltung gegenüber der Kammer sich zu verständigen. Hierzu bot die Revision des Etats den nächsten Anlaß. Es galt zunächst, das Deficit um jeden Preis, wenn auch nicht zu beseitigen, so doch zu vermindern. Man hatte von Seiten der Minister — wir erinnern nur an die Rede v. Varnbülers vom 11. December 1867, an die Wahlrede Mittnachts in Mergentheim vom Juli 1868 — das Volk so vielfach mit den preußischen Stcuerverhältnissen geängstigt, man hatte sogar erst neuerdings (1868) in dem von einer Regie¬ rungscommission ausgearbeiteten „Lesebuch für die evangelischen Volksschulen" in höchst gehässiger Weise die Württembergischen Steuern den Preußischen unter sichtbar ungenauen Zahlenangaben entgegengestellt, um die heranwachsende Jugend mit Preußenhaß zu erfüllen, und fühlte sich nun doppelt beschämt durch die schwäbische Finanzlage. Den wahren Grund derselben, die kopflose Eisenbahnpolitik, wollte man auch jetzt nicht eingestehen' da ein Umkehren nicht mehr möglich war, und man gerade mit ihrer Hilfe einige der 45 Abge¬ ordneten auf die Negierungsseite zu ziehen hoffte. Es gelang denn auch durch Anwendung der raffinirtesten Sparsamkeit, durch welche namentlich die Kriegs¬ bereitschaft des Heeres ernstlich bedroht wurde, sowie durch verschiedene Rech¬ nungsoperationen das Deficit um ein Erhebliches zu mindern. War aber hiervon ein ernstlicher Erfolg gegenüber der zur Zeit der Blüthe des Preußenhasses gewählten Ständeversammlung zu erwarten? Vor einem Staats¬ streich schreckten die Herrn v. Varnbüler, Mittnacht und Geßler entschieden zurück, wenn auch Herr v, Scheurlen sich weniger Gewissensscrupel aus einem solchen gemacht hätte. Dazu fehlte vor Allem der nöthige Rückhalt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/244>, abgerufen am 29.06.2024.