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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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tralität um jeden Preis. Das Volk ließ sich aber dieses Mal von seinen
bisherigen Führern nicht bethören. Man hatte selbst da, wo es an aller
Begeisterung für die Sache der Nation fehlte, die Ueberzeugung, daß die
Neutralität nach der geographischen Lage von Süddeutschland unmöglich sei,
daß Frankreich sich nicht auf die schmale Angriffsfront am Rhein beschränken,
sondern in Wiederholung des berühmten Flankenmarsches von 1806 den Durch¬
bruch durch das wehrlose Süddeutschland versuchen werde. In der peinlichsten
Situation war das Ministerium. Der König war eben bei Beginn der
Krise in das Engadin abgereist, es fehlte daher scheinbar zuerst an der Voll¬
macht zu einer so wichtigen Entschließung. Vor Allem fürchtete man aber,
es könnten in dem Augenblick, wo man sich sür den ,,">,las koczäeris" erklärt
haben würde, die Franzosen Stuttgart besetzen. Es handelte sich also für die
Regierung um den Entschluß, mit dem König das Land zu verlassen und sich
in das "preußische" Hauptquartier zu begeben. Das war für den bisherigen
schwäbischen Particularismus keine Kleinigkeit. Von Seiten der Norddeutschen
Gesandtschaft suchte man zwar dieses Bedenken dadurch zu beseitigen, daß man
dem Ministerium genaue Nachrichten über den Stand der französischen
Rüstungen gab, allein dennoch ist eine unbestreitbare Thatsache, daß die
Württembergische Regierung bis zu dem hochherzigen Entschlüsse des Königs
von Bayern zögerte, gegenüber von Frankreich die Brücke hinter sich abzu¬
brechen, daß sie insbesondere noch bis zuletzt die Verantwortung für die Ent¬
scheidung möglichst von sich ab- und auf die Ständeversammlung, deren
Charakter wir oben geschildert haben, überzuwälzen suchte. In diesem Sinn
setzte Herr von Varnbüler die Verhandlungen mit dem französischen
Gesandten noch lange fort und der Graf von Se. Ballier hatte wohl
allen Grund, in seinem vorhin angeführten Schreiben zu erklären, daß
ihm noch möglich gewesen wäre, "die beiden deutschen Königreiche des
Südens zu desinteressiren". Man glaubte diesseits, bei dem doppel¬
ten Spiel, für alle Eventualitäten gedeckt zu sein. Als man sich endlich
nach dem Vorgang Bayerns für die Kriegserklärung entschied, setzte man dem
Vertreter des Norddeutschen Bundes gegenüber auseinander, wie man mit
diplomatischer List den Abbruch mit Frankreich zu verzögern gewußt habe,
um Zeit für die nothwendige Ergänzung der Rüstungen zu gewinnen, und
rühmte sich später, durch dieses Hinhalten wesentlich zu dem Beginn des
Krieges beigetragen zu haben. Wir brauchen kaum zu bemerken, wie man
im Fall einer Ueberraschung durch Frankreich den preußischen Gesandten in
ähnlicher Weise als den Gefoppten hätte darstellen können.

Die Negierung mochte wohl fühlen, welche zweifelhafte Stellung Würl>
temberg in dem Augenblick der Krisis eingenommen hatte, und daß der Ruhm
des raschen, wie festen Entschlusses, und damit der Dank, dem Bayernkönig


tralität um jeden Preis. Das Volk ließ sich aber dieses Mal von seinen
bisherigen Führern nicht bethören. Man hatte selbst da, wo es an aller
Begeisterung für die Sache der Nation fehlte, die Ueberzeugung, daß die
Neutralität nach der geographischen Lage von Süddeutschland unmöglich sei,
daß Frankreich sich nicht auf die schmale Angriffsfront am Rhein beschränken,
sondern in Wiederholung des berühmten Flankenmarsches von 1806 den Durch¬
bruch durch das wehrlose Süddeutschland versuchen werde. In der peinlichsten
Situation war das Ministerium. Der König war eben bei Beginn der
Krise in das Engadin abgereist, es fehlte daher scheinbar zuerst an der Voll¬
macht zu einer so wichtigen Entschließung. Vor Allem fürchtete man aber,
es könnten in dem Augenblick, wo man sich sür den ,,«>,las koczäeris" erklärt
haben würde, die Franzosen Stuttgart besetzen. Es handelte sich also für die
Regierung um den Entschluß, mit dem König das Land zu verlassen und sich
in das „preußische" Hauptquartier zu begeben. Das war für den bisherigen
schwäbischen Particularismus keine Kleinigkeit. Von Seiten der Norddeutschen
Gesandtschaft suchte man zwar dieses Bedenken dadurch zu beseitigen, daß man
dem Ministerium genaue Nachrichten über den Stand der französischen
Rüstungen gab, allein dennoch ist eine unbestreitbare Thatsache, daß die
Württembergische Regierung bis zu dem hochherzigen Entschlüsse des Königs
von Bayern zögerte, gegenüber von Frankreich die Brücke hinter sich abzu¬
brechen, daß sie insbesondere noch bis zuletzt die Verantwortung für die Ent¬
scheidung möglichst von sich ab- und auf die Ständeversammlung, deren
Charakter wir oben geschildert haben, überzuwälzen suchte. In diesem Sinn
setzte Herr von Varnbüler die Verhandlungen mit dem französischen
Gesandten noch lange fort und der Graf von Se. Ballier hatte wohl
allen Grund, in seinem vorhin angeführten Schreiben zu erklären, daß
ihm noch möglich gewesen wäre, „die beiden deutschen Königreiche des
Südens zu desinteressiren". Man glaubte diesseits, bei dem doppel¬
ten Spiel, für alle Eventualitäten gedeckt zu sein. Als man sich endlich
nach dem Vorgang Bayerns für die Kriegserklärung entschied, setzte man dem
Vertreter des Norddeutschen Bundes gegenüber auseinander, wie man mit
diplomatischer List den Abbruch mit Frankreich zu verzögern gewußt habe,
um Zeit für die nothwendige Ergänzung der Rüstungen zu gewinnen, und
rühmte sich später, durch dieses Hinhalten wesentlich zu dem Beginn des
Krieges beigetragen zu haben. Wir brauchen kaum zu bemerken, wie man
im Fall einer Ueberraschung durch Frankreich den preußischen Gesandten in
ähnlicher Weise als den Gefoppten hätte darstellen können.

Die Negierung mochte wohl fühlen, welche zweifelhafte Stellung Würl>
temberg in dem Augenblick der Krisis eingenommen hatte, und daß der Ruhm
des raschen, wie festen Entschlusses, und damit der Dank, dem Bayernkönig


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[0246] tralität um jeden Preis. Das Volk ließ sich aber dieses Mal von seinen bisherigen Führern nicht bethören. Man hatte selbst da, wo es an aller Begeisterung für die Sache der Nation fehlte, die Ueberzeugung, daß die Neutralität nach der geographischen Lage von Süddeutschland unmöglich sei, daß Frankreich sich nicht auf die schmale Angriffsfront am Rhein beschränken, sondern in Wiederholung des berühmten Flankenmarsches von 1806 den Durch¬ bruch durch das wehrlose Süddeutschland versuchen werde. In der peinlichsten Situation war das Ministerium. Der König war eben bei Beginn der Krise in das Engadin abgereist, es fehlte daher scheinbar zuerst an der Voll¬ macht zu einer so wichtigen Entschließung. Vor Allem fürchtete man aber, es könnten in dem Augenblick, wo man sich sür den ,,«>,las koczäeris" erklärt haben würde, die Franzosen Stuttgart besetzen. Es handelte sich also für die Regierung um den Entschluß, mit dem König das Land zu verlassen und sich in das „preußische" Hauptquartier zu begeben. Das war für den bisherigen schwäbischen Particularismus keine Kleinigkeit. Von Seiten der Norddeutschen Gesandtschaft suchte man zwar dieses Bedenken dadurch zu beseitigen, daß man dem Ministerium genaue Nachrichten über den Stand der französischen Rüstungen gab, allein dennoch ist eine unbestreitbare Thatsache, daß die Württembergische Regierung bis zu dem hochherzigen Entschlüsse des Königs von Bayern zögerte, gegenüber von Frankreich die Brücke hinter sich abzu¬ brechen, daß sie insbesondere noch bis zuletzt die Verantwortung für die Ent¬ scheidung möglichst von sich ab- und auf die Ständeversammlung, deren Charakter wir oben geschildert haben, überzuwälzen suchte. In diesem Sinn setzte Herr von Varnbüler die Verhandlungen mit dem französischen Gesandten noch lange fort und der Graf von Se. Ballier hatte wohl allen Grund, in seinem vorhin angeführten Schreiben zu erklären, daß ihm noch möglich gewesen wäre, „die beiden deutschen Königreiche des Südens zu desinteressiren". Man glaubte diesseits, bei dem doppel¬ ten Spiel, für alle Eventualitäten gedeckt zu sein. Als man sich endlich nach dem Vorgang Bayerns für die Kriegserklärung entschied, setzte man dem Vertreter des Norddeutschen Bundes gegenüber auseinander, wie man mit diplomatischer List den Abbruch mit Frankreich zu verzögern gewußt habe, um Zeit für die nothwendige Ergänzung der Rüstungen zu gewinnen, und rühmte sich später, durch dieses Hinhalten wesentlich zu dem Beginn des Krieges beigetragen zu haben. Wir brauchen kaum zu bemerken, wie man im Fall einer Ueberraschung durch Frankreich den preußischen Gesandten in ähnlicher Weise als den Gefoppten hätte darstellen können. Die Negierung mochte wohl fühlen, welche zweifelhafte Stellung Würl> temberg in dem Augenblick der Krisis eingenommen hatte, und daß der Ruhm des raschen, wie festen Entschlusses, und damit der Dank, dem Bayernkönig

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/246>, abgerufen am 29.06.2024.