Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

nur die Stärke des stehenden Heeres bestimmt werden sollte, sondern auch die
auf zwei Jahre herabgesetzte Präsenz durch Beschränkung der Mittel auf ein
solches Minimum heruntergebracht werden konnte, daß die Heeresfolge that¬
sächlich illusorisch wurde.

Bon dieser Seite aus wurde nun, nachdem, im Juli 1868 die neue Kam¬
mer zum ersten Male auf Grund des allgemeinen Stimmrechts gewählt wor¬
den war (wobei die Regierung die verbissensten Gegner der Verträge, wie
Deffner. Ammermüller, Schott, Fricker im Staatsanzeiger selbst zur Wahl
empfohlen hatte) im Januar v. J> der allgemeine Angriff gegen die Regie¬
rungsposition beschlossen. Es erfolgte, unter dem lauten Beifall der bona¬
partistischen Presse, der bekannte Adressensturm; 160,000 Wähler forderten
Abschaffung des Militarismus und Einführung des Milizsystems. Das Mi¬
nisterium Varnbüler-Mittnacht trat mit keinem Wort einer Agitation ent¬
gegen, welche sogar unter dem Scheins der Billigung von Seiten der Regie¬
rung betrieben wurde. Es bedürfte nur weniger Zahlen, um ihr den Nerv
abzuschneiden; nämlich des leichten Nachweises, daß das angekündigte Deficit
nicht sowohl eine Folge des gesteigerten Militäraufwands als des kopflosen
Eisenbahnbaus gewesen, welcher gänzlich ertragslose Bahnen hergestellt
hatte, deren Baucapital der Staat mit S°/<> verzinsen mußte; aber man wollte
diese Aufklärung nicht geben.

Im März v. I. erfolgte der Zusammentritt der Stände; 45 Abgeordnete
der großdeutschen Richtung, thatsächlich schon die Majorität, brachten den
Antrag auf wesentliche Verminderung des Militäraufwandes ein; schon hofften
die Herren Probst, Oesterlen und Mayer in den nächsten Tagen ein ultra¬
montan-demokratisches Ministerium der Krone aufnöthigen zu können, und
Preußen die Verträge zu kündigen: da erkannte der König plötzlich den Ab¬
grund, an den das Land durch die bisherige Politik des Ministeriums gestellt
worden war. Die Entschließung, ob die Monarchie sich an die Spitze der Re¬
volution stellen, oder ihren Rückhalt in Preußen suchen wollte, ließ sich jetzt
nicht länger mehr aufschieben, man entschloß sich bekanntlich, allen Außen¬
stehenden unerwartet, zu "dem Schlag ins Gesicht des treuen Volkes", wie der
"Beobachter" sich ausdrückte. Die Seele der großdeutschen Schwindelpolitik,
der Liebling der Demokratie, G olther, mußte aus dem Ministerium scheiden,
und an seine Stelle trat in der Folge der Universitätskanzler von Geßler, ein
Mann der kalten Berechnung, zwar großdeutsch nach seinen Antecedenzien,
aber ein Mann, von dem eine nüchterne Berücksichtigung der thatsächlichen Ver¬
hältnisse zu erwarten war, dem man namentlich zutraute, daß er den in der
letzten Zeit maßlos gesteigerten Etat des Cultministeriums auf das richtige
Maß zurückführen werde. Minister des Innern wurde Staatsrath von
Tcheurlen, bekannt durch schwäbische Derbheit, ein cynischer Verächter aller


nur die Stärke des stehenden Heeres bestimmt werden sollte, sondern auch die
auf zwei Jahre herabgesetzte Präsenz durch Beschränkung der Mittel auf ein
solches Minimum heruntergebracht werden konnte, daß die Heeresfolge that¬
sächlich illusorisch wurde.

Bon dieser Seite aus wurde nun, nachdem, im Juli 1868 die neue Kam¬
mer zum ersten Male auf Grund des allgemeinen Stimmrechts gewählt wor¬
den war (wobei die Regierung die verbissensten Gegner der Verträge, wie
Deffner. Ammermüller, Schott, Fricker im Staatsanzeiger selbst zur Wahl
empfohlen hatte) im Januar v. J> der allgemeine Angriff gegen die Regie¬
rungsposition beschlossen. Es erfolgte, unter dem lauten Beifall der bona¬
partistischen Presse, der bekannte Adressensturm; 160,000 Wähler forderten
Abschaffung des Militarismus und Einführung des Milizsystems. Das Mi¬
nisterium Varnbüler-Mittnacht trat mit keinem Wort einer Agitation ent¬
gegen, welche sogar unter dem Scheins der Billigung von Seiten der Regie¬
rung betrieben wurde. Es bedürfte nur weniger Zahlen, um ihr den Nerv
abzuschneiden; nämlich des leichten Nachweises, daß das angekündigte Deficit
nicht sowohl eine Folge des gesteigerten Militäraufwands als des kopflosen
Eisenbahnbaus gewesen, welcher gänzlich ertragslose Bahnen hergestellt
hatte, deren Baucapital der Staat mit S°/<> verzinsen mußte; aber man wollte
diese Aufklärung nicht geben.

Im März v. I. erfolgte der Zusammentritt der Stände; 45 Abgeordnete
der großdeutschen Richtung, thatsächlich schon die Majorität, brachten den
Antrag auf wesentliche Verminderung des Militäraufwandes ein; schon hofften
die Herren Probst, Oesterlen und Mayer in den nächsten Tagen ein ultra¬
montan-demokratisches Ministerium der Krone aufnöthigen zu können, und
Preußen die Verträge zu kündigen: da erkannte der König plötzlich den Ab¬
grund, an den das Land durch die bisherige Politik des Ministeriums gestellt
worden war. Die Entschließung, ob die Monarchie sich an die Spitze der Re¬
volution stellen, oder ihren Rückhalt in Preußen suchen wollte, ließ sich jetzt
nicht länger mehr aufschieben, man entschloß sich bekanntlich, allen Außen¬
stehenden unerwartet, zu „dem Schlag ins Gesicht des treuen Volkes", wie der
„Beobachter" sich ausdrückte. Die Seele der großdeutschen Schwindelpolitik,
der Liebling der Demokratie, G olther, mußte aus dem Ministerium scheiden,
und an seine Stelle trat in der Folge der Universitätskanzler von Geßler, ein
Mann der kalten Berechnung, zwar großdeutsch nach seinen Antecedenzien,
aber ein Mann, von dem eine nüchterne Berücksichtigung der thatsächlichen Ver¬
hältnisse zu erwarten war, dem man namentlich zutraute, daß er den in der
letzten Zeit maßlos gesteigerten Etat des Cultministeriums auf das richtige
Maß zurückführen werde. Minister des Innern wurde Staatsrath von
Tcheurlen, bekannt durch schwäbische Derbheit, ein cynischer Verächter aller


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0243" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/125487"/>
            <p xml:id="ID_910" prev="#ID_909"> nur die Stärke des stehenden Heeres bestimmt werden sollte, sondern auch die<lb/>
auf zwei Jahre herabgesetzte Präsenz durch Beschränkung der Mittel auf ein<lb/>
solches Minimum heruntergebracht werden konnte, daß die Heeresfolge that¬<lb/>
sächlich illusorisch wurde.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_911"> Bon dieser Seite aus wurde nun, nachdem, im Juli 1868 die neue Kam¬<lb/>
mer zum ersten Male auf Grund des allgemeinen Stimmrechts gewählt wor¬<lb/>
den war (wobei die Regierung die verbissensten Gegner der Verträge, wie<lb/>
Deffner. Ammermüller, Schott, Fricker im Staatsanzeiger selbst zur Wahl<lb/>
empfohlen hatte) im Januar v. J&gt; der allgemeine Angriff gegen die Regie¬<lb/>
rungsposition beschlossen. Es erfolgte, unter dem lauten Beifall der bona¬<lb/>
partistischen Presse, der bekannte Adressensturm; 160,000 Wähler forderten<lb/>
Abschaffung des Militarismus und Einführung des Milizsystems. Das Mi¬<lb/>
nisterium Varnbüler-Mittnacht trat mit keinem Wort einer Agitation ent¬<lb/>
gegen, welche sogar unter dem Scheins der Billigung von Seiten der Regie¬<lb/>
rung betrieben wurde. Es bedürfte nur weniger Zahlen, um ihr den Nerv<lb/>
abzuschneiden; nämlich des leichten Nachweises, daß das angekündigte Deficit<lb/>
nicht sowohl eine Folge des gesteigerten Militäraufwands als des kopflosen<lb/>
Eisenbahnbaus gewesen, welcher gänzlich ertragslose Bahnen hergestellt<lb/>
hatte, deren Baucapital der Staat mit S°/&lt;&gt; verzinsen mußte; aber man wollte<lb/>
diese Aufklärung nicht geben.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_912" next="#ID_913"> Im März v. I. erfolgte der Zusammentritt der Stände; 45 Abgeordnete<lb/>
der großdeutschen Richtung, thatsächlich schon die Majorität, brachten den<lb/>
Antrag auf wesentliche Verminderung des Militäraufwandes ein; schon hofften<lb/>
die Herren Probst, Oesterlen und Mayer in den nächsten Tagen ein ultra¬<lb/>
montan-demokratisches Ministerium der Krone aufnöthigen zu können, und<lb/>
Preußen die Verträge zu kündigen: da erkannte der König plötzlich den Ab¬<lb/>
grund, an den das Land durch die bisherige Politik des Ministeriums gestellt<lb/>
worden war. Die Entschließung, ob die Monarchie sich an die Spitze der Re¬<lb/>
volution stellen, oder ihren Rückhalt in Preußen suchen wollte, ließ sich jetzt<lb/>
nicht länger mehr aufschieben, man entschloß sich bekanntlich, allen Außen¬<lb/>
stehenden unerwartet, zu &#x201E;dem Schlag ins Gesicht des treuen Volkes", wie der<lb/>
&#x201E;Beobachter" sich ausdrückte. Die Seele der großdeutschen Schwindelpolitik,<lb/>
der Liebling der Demokratie, G olther, mußte aus dem Ministerium scheiden,<lb/>
und an seine Stelle trat in der Folge der Universitätskanzler von Geßler, ein<lb/>
Mann der kalten Berechnung, zwar großdeutsch nach seinen Antecedenzien,<lb/>
aber ein Mann, von dem eine nüchterne Berücksichtigung der thatsächlichen Ver¬<lb/>
hältnisse zu erwarten war, dem man namentlich zutraute, daß er den in der<lb/>
letzten Zeit maßlos gesteigerten Etat des Cultministeriums auf das richtige<lb/>
Maß zurückführen werde. Minister des Innern wurde Staatsrath von<lb/>
Tcheurlen, bekannt durch schwäbische Derbheit, ein cynischer Verächter aller</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0243] nur die Stärke des stehenden Heeres bestimmt werden sollte, sondern auch die auf zwei Jahre herabgesetzte Präsenz durch Beschränkung der Mittel auf ein solches Minimum heruntergebracht werden konnte, daß die Heeresfolge that¬ sächlich illusorisch wurde. Bon dieser Seite aus wurde nun, nachdem, im Juli 1868 die neue Kam¬ mer zum ersten Male auf Grund des allgemeinen Stimmrechts gewählt wor¬ den war (wobei die Regierung die verbissensten Gegner der Verträge, wie Deffner. Ammermüller, Schott, Fricker im Staatsanzeiger selbst zur Wahl empfohlen hatte) im Januar v. J> der allgemeine Angriff gegen die Regie¬ rungsposition beschlossen. Es erfolgte, unter dem lauten Beifall der bona¬ partistischen Presse, der bekannte Adressensturm; 160,000 Wähler forderten Abschaffung des Militarismus und Einführung des Milizsystems. Das Mi¬ nisterium Varnbüler-Mittnacht trat mit keinem Wort einer Agitation ent¬ gegen, welche sogar unter dem Scheins der Billigung von Seiten der Regie¬ rung betrieben wurde. Es bedürfte nur weniger Zahlen, um ihr den Nerv abzuschneiden; nämlich des leichten Nachweises, daß das angekündigte Deficit nicht sowohl eine Folge des gesteigerten Militäraufwands als des kopflosen Eisenbahnbaus gewesen, welcher gänzlich ertragslose Bahnen hergestellt hatte, deren Baucapital der Staat mit S°/<> verzinsen mußte; aber man wollte diese Aufklärung nicht geben. Im März v. I. erfolgte der Zusammentritt der Stände; 45 Abgeordnete der großdeutschen Richtung, thatsächlich schon die Majorität, brachten den Antrag auf wesentliche Verminderung des Militäraufwandes ein; schon hofften die Herren Probst, Oesterlen und Mayer in den nächsten Tagen ein ultra¬ montan-demokratisches Ministerium der Krone aufnöthigen zu können, und Preußen die Verträge zu kündigen: da erkannte der König plötzlich den Ab¬ grund, an den das Land durch die bisherige Politik des Ministeriums gestellt worden war. Die Entschließung, ob die Monarchie sich an die Spitze der Re¬ volution stellen, oder ihren Rückhalt in Preußen suchen wollte, ließ sich jetzt nicht länger mehr aufschieben, man entschloß sich bekanntlich, allen Außen¬ stehenden unerwartet, zu „dem Schlag ins Gesicht des treuen Volkes", wie der „Beobachter" sich ausdrückte. Die Seele der großdeutschen Schwindelpolitik, der Liebling der Demokratie, G olther, mußte aus dem Ministerium scheiden, und an seine Stelle trat in der Folge der Universitätskanzler von Geßler, ein Mann der kalten Berechnung, zwar großdeutsch nach seinen Antecedenzien, aber ein Mann, von dem eine nüchterne Berücksichtigung der thatsächlichen Ver¬ hältnisse zu erwarten war, dem man namentlich zutraute, daß er den in der letzten Zeit maßlos gesteigerten Etat des Cultministeriums auf das richtige Maß zurückführen werde. Minister des Innern wurde Staatsrath von Tcheurlen, bekannt durch schwäbische Derbheit, ein cynischer Verächter aller

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/243
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/243>, abgerufen am 28.09.2024.