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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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Erkrankung oder sonstigen Abwesenheit bei irgend einer wichtigen Abstim¬
mung!

In diesen Verhältnissen, bei welchen der Eisenbahnbau durch den Staat
die wichtigste Rolle spielte, liegt der Schlüssel zur Erklärung einer Reihe von
Siegen des Ministeriums, welche, wenn auch nur mit einigen Stimmen errun¬
gen, doch immer genügten, die Fortexistenz desselben bis zur nächsten Krise
zu sichern. Aehnliches war zwar auch schon in früheren Jahren vorgekommen,
allein seitdem die Monarchie mit dem Jahre t866 den bisherigen Rückhalt
im deutschen Bund verloren hatte, und sich des Genusses der unbeschränkten
Souveränität erfreute, hatte der Staat seinen Schwerpunkt gänzlich verloren.
Ihn wieder zu gewinnen wäre nur durch den Anschluß an den Nordbund, oder
aber, sofern die Verhältnisse Europas dies gestatteten, durch die Gründung
eines auf sich selbst beruhenden demokratischen Gemeinwesens im Süden mög¬
lich gewesen; da man keins von Beiden wollte, so handelte es sich nur um
die Fristung der Existenz um jeden Preis.

Natürlich mußten sich die Wirkungen dieses Regierungssystems, wenn
man von einem solchen überhaupt noch reden kann, auch in der Verwaltung
der Departements äußern. Wir können hier nicht ins Einzelne eingehen, wir
bemerken nur, daß je weniger Selbstvertrauen und politische Gesinnung das
Ministerium den Ständen gegenüber an den Tag legte, um so größer das
Bedürfniß war, unbedingt über den Beamtenstand, einschließlich der Richter
zu verfügen. Die Staatsmaschine als solche sollte gleichsam den mangelnden
Geist der Leitung ersetzen. Daher die Zumuthung an die Beamten, bei jeder
Schwenkung, welche das Ministerium unter den Einflüssen von Außen von
einem politischen Extrem zum andern machte, auch ihrerseits mit der Gesin¬
nung zu wechseln; und wie schwer war es für diese, zu wissen, was überhaupt
der jeweilige Standpunkt des Ministeriums war! Thatsache ist, daß mit
Hilfe des um sich greifenden Denunciantenwesens im Beamtenstand die freie
Meinungsäußerung, an welche man unter der Negierung des verstorbenen
Königs seit langen Jahren gewöhnt war, immer mehr unterdrückt, und da¬
gegen die Lakaiengesinnung mit besonderer Vorliebe gepflegt wurde. Demo-
ralisirend mußte insbesondere das die ganze Staatsverwaltung beherrschende
Haschen nach Popularität wirken, die Tendenz, bei jeder Gelegenheit in öffent¬
licher Stimmung Geschäfte zu machen. Dieses Streben, das namentlich auch in
der Justiz mit der Ausdehnung des Schöffeninstituts auf die höheren Ge¬
richte eine häßliche Form annahm, gewöhnte allmcihlig die unteren Functionäre
der Verwaltung, statt der stritten Verwirklichung der Gesetze in erster Linie
gewisse allgemein in die Augen fallende, zur Verwerthung in der Presse und
in der Ständekammer brauchbare Resultate zu erzielen. -- Dennoch konnte,
trotz aller Transactionen und selbst Demüthigungen, welche man um des


Erkrankung oder sonstigen Abwesenheit bei irgend einer wichtigen Abstim¬
mung!

In diesen Verhältnissen, bei welchen der Eisenbahnbau durch den Staat
die wichtigste Rolle spielte, liegt der Schlüssel zur Erklärung einer Reihe von
Siegen des Ministeriums, welche, wenn auch nur mit einigen Stimmen errun¬
gen, doch immer genügten, die Fortexistenz desselben bis zur nächsten Krise
zu sichern. Aehnliches war zwar auch schon in früheren Jahren vorgekommen,
allein seitdem die Monarchie mit dem Jahre t866 den bisherigen Rückhalt
im deutschen Bund verloren hatte, und sich des Genusses der unbeschränkten
Souveränität erfreute, hatte der Staat seinen Schwerpunkt gänzlich verloren.
Ihn wieder zu gewinnen wäre nur durch den Anschluß an den Nordbund, oder
aber, sofern die Verhältnisse Europas dies gestatteten, durch die Gründung
eines auf sich selbst beruhenden demokratischen Gemeinwesens im Süden mög¬
lich gewesen; da man keins von Beiden wollte, so handelte es sich nur um
die Fristung der Existenz um jeden Preis.

Natürlich mußten sich die Wirkungen dieses Regierungssystems, wenn
man von einem solchen überhaupt noch reden kann, auch in der Verwaltung
der Departements äußern. Wir können hier nicht ins Einzelne eingehen, wir
bemerken nur, daß je weniger Selbstvertrauen und politische Gesinnung das
Ministerium den Ständen gegenüber an den Tag legte, um so größer das
Bedürfniß war, unbedingt über den Beamtenstand, einschließlich der Richter
zu verfügen. Die Staatsmaschine als solche sollte gleichsam den mangelnden
Geist der Leitung ersetzen. Daher die Zumuthung an die Beamten, bei jeder
Schwenkung, welche das Ministerium unter den Einflüssen von Außen von
einem politischen Extrem zum andern machte, auch ihrerseits mit der Gesin¬
nung zu wechseln; und wie schwer war es für diese, zu wissen, was überhaupt
der jeweilige Standpunkt des Ministeriums war! Thatsache ist, daß mit
Hilfe des um sich greifenden Denunciantenwesens im Beamtenstand die freie
Meinungsäußerung, an welche man unter der Negierung des verstorbenen
Königs seit langen Jahren gewöhnt war, immer mehr unterdrückt, und da¬
gegen die Lakaiengesinnung mit besonderer Vorliebe gepflegt wurde. Demo-
ralisirend mußte insbesondere das die ganze Staatsverwaltung beherrschende
Haschen nach Popularität wirken, die Tendenz, bei jeder Gelegenheit in öffent¬
licher Stimmung Geschäfte zu machen. Dieses Streben, das namentlich auch in
der Justiz mit der Ausdehnung des Schöffeninstituts auf die höheren Ge¬
richte eine häßliche Form annahm, gewöhnte allmcihlig die unteren Functionäre
der Verwaltung, statt der stritten Verwirklichung der Gesetze in erster Linie
gewisse allgemein in die Augen fallende, zur Verwerthung in der Presse und
in der Ständekammer brauchbare Resultate zu erzielen. — Dennoch konnte,
trotz aller Transactionen und selbst Demüthigungen, welche man um des


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[0241] Erkrankung oder sonstigen Abwesenheit bei irgend einer wichtigen Abstim¬ mung! In diesen Verhältnissen, bei welchen der Eisenbahnbau durch den Staat die wichtigste Rolle spielte, liegt der Schlüssel zur Erklärung einer Reihe von Siegen des Ministeriums, welche, wenn auch nur mit einigen Stimmen errun¬ gen, doch immer genügten, die Fortexistenz desselben bis zur nächsten Krise zu sichern. Aehnliches war zwar auch schon in früheren Jahren vorgekommen, allein seitdem die Monarchie mit dem Jahre t866 den bisherigen Rückhalt im deutschen Bund verloren hatte, und sich des Genusses der unbeschränkten Souveränität erfreute, hatte der Staat seinen Schwerpunkt gänzlich verloren. Ihn wieder zu gewinnen wäre nur durch den Anschluß an den Nordbund, oder aber, sofern die Verhältnisse Europas dies gestatteten, durch die Gründung eines auf sich selbst beruhenden demokratischen Gemeinwesens im Süden mög¬ lich gewesen; da man keins von Beiden wollte, so handelte es sich nur um die Fristung der Existenz um jeden Preis. Natürlich mußten sich die Wirkungen dieses Regierungssystems, wenn man von einem solchen überhaupt noch reden kann, auch in der Verwaltung der Departements äußern. Wir können hier nicht ins Einzelne eingehen, wir bemerken nur, daß je weniger Selbstvertrauen und politische Gesinnung das Ministerium den Ständen gegenüber an den Tag legte, um so größer das Bedürfniß war, unbedingt über den Beamtenstand, einschließlich der Richter zu verfügen. Die Staatsmaschine als solche sollte gleichsam den mangelnden Geist der Leitung ersetzen. Daher die Zumuthung an die Beamten, bei jeder Schwenkung, welche das Ministerium unter den Einflüssen von Außen von einem politischen Extrem zum andern machte, auch ihrerseits mit der Gesin¬ nung zu wechseln; und wie schwer war es für diese, zu wissen, was überhaupt der jeweilige Standpunkt des Ministeriums war! Thatsache ist, daß mit Hilfe des um sich greifenden Denunciantenwesens im Beamtenstand die freie Meinungsäußerung, an welche man unter der Negierung des verstorbenen Königs seit langen Jahren gewöhnt war, immer mehr unterdrückt, und da¬ gegen die Lakaiengesinnung mit besonderer Vorliebe gepflegt wurde. Demo- ralisirend mußte insbesondere das die ganze Staatsverwaltung beherrschende Haschen nach Popularität wirken, die Tendenz, bei jeder Gelegenheit in öffent¬ licher Stimmung Geschäfte zu machen. Dieses Streben, das namentlich auch in der Justiz mit der Ausdehnung des Schöffeninstituts auf die höheren Ge¬ richte eine häßliche Form annahm, gewöhnte allmcihlig die unteren Functionäre der Verwaltung, statt der stritten Verwirklichung der Gesetze in erster Linie gewisse allgemein in die Augen fallende, zur Verwerthung in der Presse und in der Ständekammer brauchbare Resultate zu erzielen. — Dennoch konnte, trotz aller Transactionen und selbst Demüthigungen, welche man um des

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/241>, abgerufen am 29.06.2024.