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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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Trotz dieser nahezu völligen Rechtlosigkeit des Einzelnen gegenüber dem
Staat sah man bisher mit Stolz auf M preußischen Conflicte herab. Was
man in dieser Beziehung dem Volke noch bis in die neueste Zeit bieten
konnte, bewies am besten die Hilfsrichterfrage in der Abgeordnetenkammer.
Auf das Drängen der liberalen Parteien hatte man eben die Hilfsrichter bei
dem Obertribunal in Berlin abgeschafft, als dieselbe Frage (im Frühjahr 1868) in
Stuttgart zur Sprache kam. Und das Unglaubliche geschah, d. h. man beschloß,
es solle künftighin bei dem Obertribunal und den Gerichtshöfen die Mehrheit
des Collegiums nicht aus Hilfsrichtern bestehen; mit anderen Worten, der
Präsident, welcher selbst eine Stimme führt und regelmäßig eine p^vns, Zi'g.tu, ist,
wurde ausdrücklich für berechtigt erklärt, je nach der Besetzung der Richterbank
mit 5 oder 7 Richtern incl. des Präsidenten unter dieser Zahl 2 oder 3
Hilfsrichter beizuziehen, deren Stellung in Württemberg so precär ist, als sie
bisher in Preußen war. Damit war das Hilfsrichterinstitut nun gesetzlich
sanctionirt und zwar in seiner verwerflichsten Ausdehnung. Die Demokratie
aber bejubelte diesen Artikel, welcher seine Entstehung ihrem Liebling, dem
Herrn von Neu rath' verdankte, als einen neuen Fortschritt der Württem¬
bergischen Freiheit!

So dringend nothwendig hiernach an sich eine Fortbildung unseres
Rechtszustandes im Sinn der Freiheit und Selbstregierung gewesen wäre, so
geschah doch aus den angeführten Gründen, auch wo die Regierung voranging,
von Seiten der Stände nichts; um so eifriger ritt man dagegen das Roß
der hohen Politik, bis man sich einen tüchtigen Wolf geritten hatte. Den
denkbar größten Gegensatz hierzu bildete die Productivität des Norddeutschen
Reichstags; auch war für die Dauer kaum möglich, sich dem Einfluß dieser
Gesetzgebung gänzlich zu entziehen. Um so sonderbarer war dafür die Hal¬
tung, welche die Kammermajorität ihr gegenüber beobachtete. So wurden in
dem Gesetz über das metrische Maß und Gewicht auf den Antrag von
Ammermüller, zollparlamentlichen Andenkens, die deutschen Maßbezeich¬
nungen durch französische ersetzt, und der notre äos ^relrives in Paris für das
Normalmaß erklärt, während in dem Gesetz über die Genossenschaften auf
den Antrag des Zollparlaments-Abgeordneten Oesterlen, wenn auch nicht
der Inhalt, so doch die Reihenfolge der Paragraphen und ähnliche Kleinig¬
keiten abgeändert wurden, um den Schein eines eigenen Gesetzes zu bewahren
und den Schwaben die Benutzung der norddeutschen Literatur möglichst zu er¬
schweren. Offenbar war diesem, an der Grenze der Lächerlichkeit angelangten
Particularismus stets der größte Stein des Anstoßes, daß es überhaupt eine
deutsche Wissenschaft gab, daß man nicht die Mathematik und Physik, Staats¬
und Rechtswissenschaft auf exclusive schwäbische Grundlagen stützen konnte.

Nicht besser als in der Ständeversammlung, sah es bisher in der Staats-


Trotz dieser nahezu völligen Rechtlosigkeit des Einzelnen gegenüber dem
Staat sah man bisher mit Stolz auf M preußischen Conflicte herab. Was
man in dieser Beziehung dem Volke noch bis in die neueste Zeit bieten
konnte, bewies am besten die Hilfsrichterfrage in der Abgeordnetenkammer.
Auf das Drängen der liberalen Parteien hatte man eben die Hilfsrichter bei
dem Obertribunal in Berlin abgeschafft, als dieselbe Frage (im Frühjahr 1868) in
Stuttgart zur Sprache kam. Und das Unglaubliche geschah, d. h. man beschloß,
es solle künftighin bei dem Obertribunal und den Gerichtshöfen die Mehrheit
des Collegiums nicht aus Hilfsrichtern bestehen; mit anderen Worten, der
Präsident, welcher selbst eine Stimme führt und regelmäßig eine p^vns, Zi'g.tu, ist,
wurde ausdrücklich für berechtigt erklärt, je nach der Besetzung der Richterbank
mit 5 oder 7 Richtern incl. des Präsidenten unter dieser Zahl 2 oder 3
Hilfsrichter beizuziehen, deren Stellung in Württemberg so precär ist, als sie
bisher in Preußen war. Damit war das Hilfsrichterinstitut nun gesetzlich
sanctionirt und zwar in seiner verwerflichsten Ausdehnung. Die Demokratie
aber bejubelte diesen Artikel, welcher seine Entstehung ihrem Liebling, dem
Herrn von Neu rath' verdankte, als einen neuen Fortschritt der Württem¬
bergischen Freiheit!

So dringend nothwendig hiernach an sich eine Fortbildung unseres
Rechtszustandes im Sinn der Freiheit und Selbstregierung gewesen wäre, so
geschah doch aus den angeführten Gründen, auch wo die Regierung voranging,
von Seiten der Stände nichts; um so eifriger ritt man dagegen das Roß
der hohen Politik, bis man sich einen tüchtigen Wolf geritten hatte. Den
denkbar größten Gegensatz hierzu bildete die Productivität des Norddeutschen
Reichstags; auch war für die Dauer kaum möglich, sich dem Einfluß dieser
Gesetzgebung gänzlich zu entziehen. Um so sonderbarer war dafür die Hal¬
tung, welche die Kammermajorität ihr gegenüber beobachtete. So wurden in
dem Gesetz über das metrische Maß und Gewicht auf den Antrag von
Ammermüller, zollparlamentlichen Andenkens, die deutschen Maßbezeich¬
nungen durch französische ersetzt, und der notre äos ^relrives in Paris für das
Normalmaß erklärt, während in dem Gesetz über die Genossenschaften auf
den Antrag des Zollparlaments-Abgeordneten Oesterlen, wenn auch nicht
der Inhalt, so doch die Reihenfolge der Paragraphen und ähnliche Kleinig¬
keiten abgeändert wurden, um den Schein eines eigenen Gesetzes zu bewahren
und den Schwaben die Benutzung der norddeutschen Literatur möglichst zu er¬
schweren. Offenbar war diesem, an der Grenze der Lächerlichkeit angelangten
Particularismus stets der größte Stein des Anstoßes, daß es überhaupt eine
deutsche Wissenschaft gab, daß man nicht die Mathematik und Physik, Staats¬
und Rechtswissenschaft auf exclusive schwäbische Grundlagen stützen konnte.

Nicht besser als in der Ständeversammlung, sah es bisher in der Staats-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/239>, abgerufen am 28.09.2024.