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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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"Freiheit" der Presse: ein System bureaukratischer Bevormundung, von wel¬
chem man sich im Norden keine Vorstellung macht, überwachte in Schwaben
den Staatsbürger von der Geburt bis zum Grabe; man hatte sich hier so
sehr in die Anschauung eingelebt, daß in allen wichtigen Situationen des
Lebens die Staatsgewalt für den Einzelnen denkt, daß man für die größten
Freiheitsbeschränkungen im Gebiet des Verkehrslebens und des Privatrechts
völlig unempfindlich geworden war.-- Man raisonnirte mit großem Behagen
über den Herrn von Muster und die preußischen Conflicte zwischen der
Staatsgewalt und den Gerichten, und es waren gerade die letzteren bisher
der dankbarste Stoff für die Agitation der Großdeutschen Demokratie. Und
doch konnten bei näherem Einblick diese Conflicte nur dazu dienen, uns
Schwaben tief zu beschämen. Die Württembergischen Cultusminister kommen
allerdings nicht in die Lage, den Wahlen der Vorstände der höheren Lehr¬
anstalten die Bestätigung zu versagen, aber nur deshalb, weil -- mit ein¬
ziger Ausnahme der Universität -- der Staat sich schon zu Rheinbundszeiten
das ausschließliche Ernennungsrecht zu diesen Stellen vindicirt hatte, der Mi¬
nister also vollkommen freie Hand hat, seine politischen und religiösen Ten¬
denzen hiebei zur Geltung zu bringen. In Schwaben gilt ferner in Ehesachen
nicht das freisinnige preußische Landrecht, sondern unsere kirchlichen Ehegerichte
entscheiden noch heute auf Grund einer altlutherischen, mit dem modernen
Zeitbewußtsein ganz unvereinbarer Ehegerichtsordnung von 1853 resp. 1687.

Was dagegen die Justiz anbelangt, so war man seit Jahren darauf be¬
dacht, ihr alle Entscheidungen abzunehmen, welche sie irgendwie mit der Ad-
ministration in Conflict bringen konnten. So ist der Anspruch des Beamten
auf seinen Gehalt für Administrativsache erklärt, eine Entscheidung der Ge¬
richte über ständische Stellvertretungskosten also geradezu unmöglich. Eben¬
so wenig ist ein Conflict, wie der zur Zeit in Celle schwebende denkbar, denn
wenn in Schwaben die Kriegsverwaltung als solche in die Rechtsverhältnisse
eines Privaten eingreift, sei es nun, daß der Eingriff gegen Eigenthum und
Besitz oder gegen die Person gerichtet wurde, so entscheidet -- da die Militär¬
hoheit der Justizhoheit nicht untergeordnet ist -- über die Einsprache des Pri¬
vaten nur die Administrativbehörde, d. h. die Kriegsverwaltung selbst. In
Württemberg kann ferner der Staat jeden Augenblick durch Erbauung einer
Eisenbahn das werthvollste Grundstück in einen Sumpf verwandeln oder
sonstwie völlig entwerthen :c. Der Private kann sich hiergegen nicht an die
Gerichte wenden, denn der Staat baut die Eisenbahn im Interesse der öffent¬
lichen Wohlfahrt; die Verfassungs-Bestimmungen über Expropriation aber
finden nach einer allerdings wunderlichen, jedoch feststehenden Interpretation
nur aus Flächenenteignungen aber nicht aus Entwerthungen in Folge von
Eingriffen der Staatsgewalt in das fremde Eigenthum Anwendung.


„Freiheit" der Presse: ein System bureaukratischer Bevormundung, von wel¬
chem man sich im Norden keine Vorstellung macht, überwachte in Schwaben
den Staatsbürger von der Geburt bis zum Grabe; man hatte sich hier so
sehr in die Anschauung eingelebt, daß in allen wichtigen Situationen des
Lebens die Staatsgewalt für den Einzelnen denkt, daß man für die größten
Freiheitsbeschränkungen im Gebiet des Verkehrslebens und des Privatrechts
völlig unempfindlich geworden war.— Man raisonnirte mit großem Behagen
über den Herrn von Muster und die preußischen Conflicte zwischen der
Staatsgewalt und den Gerichten, und es waren gerade die letzteren bisher
der dankbarste Stoff für die Agitation der Großdeutschen Demokratie. Und
doch konnten bei näherem Einblick diese Conflicte nur dazu dienen, uns
Schwaben tief zu beschämen. Die Württembergischen Cultusminister kommen
allerdings nicht in die Lage, den Wahlen der Vorstände der höheren Lehr¬
anstalten die Bestätigung zu versagen, aber nur deshalb, weil — mit ein¬
ziger Ausnahme der Universität — der Staat sich schon zu Rheinbundszeiten
das ausschließliche Ernennungsrecht zu diesen Stellen vindicirt hatte, der Mi¬
nister also vollkommen freie Hand hat, seine politischen und religiösen Ten¬
denzen hiebei zur Geltung zu bringen. In Schwaben gilt ferner in Ehesachen
nicht das freisinnige preußische Landrecht, sondern unsere kirchlichen Ehegerichte
entscheiden noch heute auf Grund einer altlutherischen, mit dem modernen
Zeitbewußtsein ganz unvereinbarer Ehegerichtsordnung von 1853 resp. 1687.

Was dagegen die Justiz anbelangt, so war man seit Jahren darauf be¬
dacht, ihr alle Entscheidungen abzunehmen, welche sie irgendwie mit der Ad-
ministration in Conflict bringen konnten. So ist der Anspruch des Beamten
auf seinen Gehalt für Administrativsache erklärt, eine Entscheidung der Ge¬
richte über ständische Stellvertretungskosten also geradezu unmöglich. Eben¬
so wenig ist ein Conflict, wie der zur Zeit in Celle schwebende denkbar, denn
wenn in Schwaben die Kriegsverwaltung als solche in die Rechtsverhältnisse
eines Privaten eingreift, sei es nun, daß der Eingriff gegen Eigenthum und
Besitz oder gegen die Person gerichtet wurde, so entscheidet — da die Militär¬
hoheit der Justizhoheit nicht untergeordnet ist — über die Einsprache des Pri¬
vaten nur die Administrativbehörde, d. h. die Kriegsverwaltung selbst. In
Württemberg kann ferner der Staat jeden Augenblick durch Erbauung einer
Eisenbahn das werthvollste Grundstück in einen Sumpf verwandeln oder
sonstwie völlig entwerthen :c. Der Private kann sich hiergegen nicht an die
Gerichte wenden, denn der Staat baut die Eisenbahn im Interesse der öffent¬
lichen Wohlfahrt; die Verfassungs-Bestimmungen über Expropriation aber
finden nach einer allerdings wunderlichen, jedoch feststehenden Interpretation
nur aus Flächenenteignungen aber nicht aus Entwerthungen in Folge von
Eingriffen der Staatsgewalt in das fremde Eigenthum Anwendung.


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[0238] „Freiheit" der Presse: ein System bureaukratischer Bevormundung, von wel¬ chem man sich im Norden keine Vorstellung macht, überwachte in Schwaben den Staatsbürger von der Geburt bis zum Grabe; man hatte sich hier so sehr in die Anschauung eingelebt, daß in allen wichtigen Situationen des Lebens die Staatsgewalt für den Einzelnen denkt, daß man für die größten Freiheitsbeschränkungen im Gebiet des Verkehrslebens und des Privatrechts völlig unempfindlich geworden war.— Man raisonnirte mit großem Behagen über den Herrn von Muster und die preußischen Conflicte zwischen der Staatsgewalt und den Gerichten, und es waren gerade die letzteren bisher der dankbarste Stoff für die Agitation der Großdeutschen Demokratie. Und doch konnten bei näherem Einblick diese Conflicte nur dazu dienen, uns Schwaben tief zu beschämen. Die Württembergischen Cultusminister kommen allerdings nicht in die Lage, den Wahlen der Vorstände der höheren Lehr¬ anstalten die Bestätigung zu versagen, aber nur deshalb, weil — mit ein¬ ziger Ausnahme der Universität — der Staat sich schon zu Rheinbundszeiten das ausschließliche Ernennungsrecht zu diesen Stellen vindicirt hatte, der Mi¬ nister also vollkommen freie Hand hat, seine politischen und religiösen Ten¬ denzen hiebei zur Geltung zu bringen. In Schwaben gilt ferner in Ehesachen nicht das freisinnige preußische Landrecht, sondern unsere kirchlichen Ehegerichte entscheiden noch heute auf Grund einer altlutherischen, mit dem modernen Zeitbewußtsein ganz unvereinbarer Ehegerichtsordnung von 1853 resp. 1687. Was dagegen die Justiz anbelangt, so war man seit Jahren darauf be¬ dacht, ihr alle Entscheidungen abzunehmen, welche sie irgendwie mit der Ad- ministration in Conflict bringen konnten. So ist der Anspruch des Beamten auf seinen Gehalt für Administrativsache erklärt, eine Entscheidung der Ge¬ richte über ständische Stellvertretungskosten also geradezu unmöglich. Eben¬ so wenig ist ein Conflict, wie der zur Zeit in Celle schwebende denkbar, denn wenn in Schwaben die Kriegsverwaltung als solche in die Rechtsverhältnisse eines Privaten eingreift, sei es nun, daß der Eingriff gegen Eigenthum und Besitz oder gegen die Person gerichtet wurde, so entscheidet — da die Militär¬ hoheit der Justizhoheit nicht untergeordnet ist — über die Einsprache des Pri¬ vaten nur die Administrativbehörde, d. h. die Kriegsverwaltung selbst. In Württemberg kann ferner der Staat jeden Augenblick durch Erbauung einer Eisenbahn das werthvollste Grundstück in einen Sumpf verwandeln oder sonstwie völlig entwerthen :c. Der Private kann sich hiergegen nicht an die Gerichte wenden, denn der Staat baut die Eisenbahn im Interesse der öffent¬ lichen Wohlfahrt; die Verfassungs-Bestimmungen über Expropriation aber finden nach einer allerdings wunderlichen, jedoch feststehenden Interpretation nur aus Flächenenteignungen aber nicht aus Entwerthungen in Folge von Eingriffen der Staatsgewalt in das fremde Eigenthum Anwendung.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/238>, abgerufen am 28.09.2024.