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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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Das Gefühl, welches also frägt, ist ohne Zweifel edel, aber es ist zu¬
gleich -- beschränkt. Man übersieht dabei, daß in der Vertheidigung der
individuellen und der völkerrechtlichen Ansprüche ein tiefer Gegensatz besteht;
man wendet den Grundsatz von Mein und Dein auch auf die Weltgeschichte
an. Im privaten Leben ist natürlich meine Existenz ebensoviel werth als
die Deine und deshalb ebenso heilig; im öffentlichen Leben aber ist das Wohl
und das Bedürfniß des Ganzen der oberste Grundsatz, und der Theil kann
nicht verlangen, daß er ebenso behandelt werde wie das Ganze, der kleinere
Zweck darf nicht begehren, daß er auf Kosten des größeren für ewige Zeit
geschont bleibe. Was für ein Volk als Grundbedingung seiner Existenz er¬
scheint, das darf es auch um den höchsten Preis erstreben, und wenn feind¬
liche Elemente ihm entgegentreten, so ist sein Kampf berechtigt. Darum gibt
es fast keinen geschichtlichen Vorgang auf Erden, bei dem nicht Tausende von
Existenzen gekränkt und geopfert wurden; denn der historische Stoffwechsel ist
ebenso gewaltsam wie der natürliche. Kein Baum wächst auf, ohne daß er
hundert andere Pflanzen erdrückt und vernichtet, kein Volk ist groß gewachsen,
ohne daß andere Völkerstämme dadurch verkümmert wurden, und man muß
nicht darin eine Ungerechtigkeit finden, daß der Schwächere unterliegt, son¬
dern darin die Gerechtigkeit, daß nur der Bessere siegt. Borübergehend mag
es anders sein, im letzten geschichtlichen Ergebniß ist es niemals anders ge
Wesen, sonst hörte die Geschichte auf, das Weltgericht zu sein. Dieselben Ge¬
setze, welche die Vorsehung in die Natur gelegt, legte sie auch in die Ge¬
schichte, und nur das sind wahrhaft große Geister, die diese Gesetze scharf¬
sichtig erkennen und vollziehen, nicht jene, die ihrem Vollzug aus Milde oder
Thatenscheu entgegentreten. Damit ist wohl die Frage, ob der Krieg an sich
ein Recht sei, klargestellt; es bleibt uns nur übrig, die concreten Ver¬
hältnisse zu betrachten, die sich während des Krieges ergeben und die durch
die bestimmten Grundsätze, die dafür anerkannt sind, die Form von Rechts¬
verhältnissen annehmen.

Schon in frühen Zeiten galt die Norm, daß der Krieg noch formell
erklärt werden müsse, auch wenn er materiell entschieden und öffent¬
lich bekannt ist. Im Mittelalter ward er von Herolden feierlich verkündet;
heutzutage ist die Ceremonie eine wesentlich diplomatische, und erfolgt nicht,
ohne die angegriffene Regierung am Schlüsse der "besonderen Hochachtung" zu
versichern. Die Form ist entweder die eines Ultimatums, (wie es 1859 in
Italien der Fall war), oder man sendet eine unbedingte Kriegserklärung, bei
der man um die Entscheidungsgründe in der Regel nicht verlegen ist. Trotz¬
dem hat die Dürftigkeit, mit welcher die französische Kriegserklärung diesmal
motivirt war, selbst bei den neutralen Mächten Erstaunen hervorgerufen.

Zugleich mit diesem Schritte tritt eine Summe von Maßregeln ein, die


Das Gefühl, welches also frägt, ist ohne Zweifel edel, aber es ist zu¬
gleich — beschränkt. Man übersieht dabei, daß in der Vertheidigung der
individuellen und der völkerrechtlichen Ansprüche ein tiefer Gegensatz besteht;
man wendet den Grundsatz von Mein und Dein auch auf die Weltgeschichte
an. Im privaten Leben ist natürlich meine Existenz ebensoviel werth als
die Deine und deshalb ebenso heilig; im öffentlichen Leben aber ist das Wohl
und das Bedürfniß des Ganzen der oberste Grundsatz, und der Theil kann
nicht verlangen, daß er ebenso behandelt werde wie das Ganze, der kleinere
Zweck darf nicht begehren, daß er auf Kosten des größeren für ewige Zeit
geschont bleibe. Was für ein Volk als Grundbedingung seiner Existenz er¬
scheint, das darf es auch um den höchsten Preis erstreben, und wenn feind¬
liche Elemente ihm entgegentreten, so ist sein Kampf berechtigt. Darum gibt
es fast keinen geschichtlichen Vorgang auf Erden, bei dem nicht Tausende von
Existenzen gekränkt und geopfert wurden; denn der historische Stoffwechsel ist
ebenso gewaltsam wie der natürliche. Kein Baum wächst auf, ohne daß er
hundert andere Pflanzen erdrückt und vernichtet, kein Volk ist groß gewachsen,
ohne daß andere Völkerstämme dadurch verkümmert wurden, und man muß
nicht darin eine Ungerechtigkeit finden, daß der Schwächere unterliegt, son¬
dern darin die Gerechtigkeit, daß nur der Bessere siegt. Borübergehend mag
es anders sein, im letzten geschichtlichen Ergebniß ist es niemals anders ge
Wesen, sonst hörte die Geschichte auf, das Weltgericht zu sein. Dieselben Ge¬
setze, welche die Vorsehung in die Natur gelegt, legte sie auch in die Ge¬
schichte, und nur das sind wahrhaft große Geister, die diese Gesetze scharf¬
sichtig erkennen und vollziehen, nicht jene, die ihrem Vollzug aus Milde oder
Thatenscheu entgegentreten. Damit ist wohl die Frage, ob der Krieg an sich
ein Recht sei, klargestellt; es bleibt uns nur übrig, die concreten Ver¬
hältnisse zu betrachten, die sich während des Krieges ergeben und die durch
die bestimmten Grundsätze, die dafür anerkannt sind, die Form von Rechts¬
verhältnissen annehmen.

Schon in frühen Zeiten galt die Norm, daß der Krieg noch formell
erklärt werden müsse, auch wenn er materiell entschieden und öffent¬
lich bekannt ist. Im Mittelalter ward er von Herolden feierlich verkündet;
heutzutage ist die Ceremonie eine wesentlich diplomatische, und erfolgt nicht,
ohne die angegriffene Regierung am Schlüsse der „besonderen Hochachtung" zu
versichern. Die Form ist entweder die eines Ultimatums, (wie es 1859 in
Italien der Fall war), oder man sendet eine unbedingte Kriegserklärung, bei
der man um die Entscheidungsgründe in der Regel nicht verlegen ist. Trotz¬
dem hat die Dürftigkeit, mit welcher die französische Kriegserklärung diesmal
motivirt war, selbst bei den neutralen Mächten Erstaunen hervorgerufen.

Zugleich mit diesem Schritte tritt eine Summe von Maßregeln ein, die


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[0214] Das Gefühl, welches also frägt, ist ohne Zweifel edel, aber es ist zu¬ gleich — beschränkt. Man übersieht dabei, daß in der Vertheidigung der individuellen und der völkerrechtlichen Ansprüche ein tiefer Gegensatz besteht; man wendet den Grundsatz von Mein und Dein auch auf die Weltgeschichte an. Im privaten Leben ist natürlich meine Existenz ebensoviel werth als die Deine und deshalb ebenso heilig; im öffentlichen Leben aber ist das Wohl und das Bedürfniß des Ganzen der oberste Grundsatz, und der Theil kann nicht verlangen, daß er ebenso behandelt werde wie das Ganze, der kleinere Zweck darf nicht begehren, daß er auf Kosten des größeren für ewige Zeit geschont bleibe. Was für ein Volk als Grundbedingung seiner Existenz er¬ scheint, das darf es auch um den höchsten Preis erstreben, und wenn feind¬ liche Elemente ihm entgegentreten, so ist sein Kampf berechtigt. Darum gibt es fast keinen geschichtlichen Vorgang auf Erden, bei dem nicht Tausende von Existenzen gekränkt und geopfert wurden; denn der historische Stoffwechsel ist ebenso gewaltsam wie der natürliche. Kein Baum wächst auf, ohne daß er hundert andere Pflanzen erdrückt und vernichtet, kein Volk ist groß gewachsen, ohne daß andere Völkerstämme dadurch verkümmert wurden, und man muß nicht darin eine Ungerechtigkeit finden, daß der Schwächere unterliegt, son¬ dern darin die Gerechtigkeit, daß nur der Bessere siegt. Borübergehend mag es anders sein, im letzten geschichtlichen Ergebniß ist es niemals anders ge Wesen, sonst hörte die Geschichte auf, das Weltgericht zu sein. Dieselben Ge¬ setze, welche die Vorsehung in die Natur gelegt, legte sie auch in die Ge¬ schichte, und nur das sind wahrhaft große Geister, die diese Gesetze scharf¬ sichtig erkennen und vollziehen, nicht jene, die ihrem Vollzug aus Milde oder Thatenscheu entgegentreten. Damit ist wohl die Frage, ob der Krieg an sich ein Recht sei, klargestellt; es bleibt uns nur übrig, die concreten Ver¬ hältnisse zu betrachten, die sich während des Krieges ergeben und die durch die bestimmten Grundsätze, die dafür anerkannt sind, die Form von Rechts¬ verhältnissen annehmen. Schon in frühen Zeiten galt die Norm, daß der Krieg noch formell erklärt werden müsse, auch wenn er materiell entschieden und öffent¬ lich bekannt ist. Im Mittelalter ward er von Herolden feierlich verkündet; heutzutage ist die Ceremonie eine wesentlich diplomatische, und erfolgt nicht, ohne die angegriffene Regierung am Schlüsse der „besonderen Hochachtung" zu versichern. Die Form ist entweder die eines Ultimatums, (wie es 1859 in Italien der Fall war), oder man sendet eine unbedingte Kriegserklärung, bei der man um die Entscheidungsgründe in der Regel nicht verlegen ist. Trotz¬ dem hat die Dürftigkeit, mit welcher die französische Kriegserklärung diesmal motivirt war, selbst bei den neutralen Mächten Erstaunen hervorgerufen. Zugleich mit diesem Schritte tritt eine Summe von Maßregeln ein, die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/214>, abgerufen am 29.06.2024.