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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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tistische Propaganda." Zahlreiche ähnliche Pronunciamentos im Theater und
auf der Straße enthält unsere Denkschrift, die natürlich sämmtlich mit der
Würde welthistorischer Ereignisse dem Leser vorgetragen werden. Größeren
Werth legen wir auf die wiederholte warme Anerkennung, welche die natio¬
nale Gesinnung und Opferfähigkeit der Nizzarden im italienischen Parlamente
fand, selbst aus dem Munde Cavour's.

Eine mächtige Förderung indessen erhielt die bis dahin kleine französische
Partei Nizzas, als im Jahr 1831 die italienische Regierung, sowohl aus fis-
calischen Gründen als um der Staatseinheit Willen, die Freihafenstellung der
Stadt aufhob. Man konnte hier erleben, wieviel doch in diesem Italien von
dem alten starren Municipalgeist bis auf unsere Tage gekommen war. Stellt
doch selbst die vorliegende Denkschrift zum Schlüsse die Alternative auf: ent¬
weder Rückkehr zum italienischen Gesammtstaat oder -- "wenigstens" ein selb¬
ständiger Freistaat Nizza! Das ganze niedere Volk der Stadt, angefeuert
durch den Klerus, unterstützt durch die Hunderte fremder und heimathloser
Elemente, denen die See das Baterland ist, oder die hier des Genusses, der
Heilung oder des Gewinnes halber ihre Tage hinbrachten, erhob sich zum
Aufruhr. Wilde Massen zogen auf die Piazza d. S. Francesco und ver¬
langten die Aufrechterhaltung ihrer uralten Freiheiten, die ihnen beschworen
seien seit 1388, als die Grafschaft "aus freiem Willen" sich unter das Haus
von Savoyen fügte. Die Menge zwar wurde zerstreut, aber die Gemeinde¬
behörden selbst ließen sich zu einem unziemlichen Protest wider die Regierung
hinreißen, bezeichnend genug in französischer Sprache. Die fremde Sprache
selbst war eine Drohung. Die Verhaftung der Petenten -- die theilweise in
tiefster Nacht erfolgte -- war die Antwort von Turin. Damit war der
kleine Pulses beseitigt und nicht minder der Freihafen. Aber nun kehrte auch
ruhige Ueberlegung zurück. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung
schämte sich bald ihrer spießbürgerlichen Gesinnung, in Erkenntniß ihrer
Pflichten gegen das Gedeihen und die Einheit ihres großen Vaterlandes; so
zwar, daß Camillo Cavour schon am 6. Mai 1851 im Parlament erklären
konnte: "Die Bürger von Nizza werden in Bälde den Vortheil unserer freien
Institutionen schätzen lernen und dann sich glücklich preisen, ein Theil unserer
subalpinischen Familie zu sein." Aber die fremden Kaufleute und der Klerus
-- der zum ersten Male hier die starke Hand der nationalen Dynastie der
Italiener empfunden hatte -- bildeten von dieser Stunde ab den Kern der fran¬
zösischen Agitation in Nizza. Dazu gesellte sich der eigentlich französische Be¬
standtheil der Stadt, der in den zwanzig Jahren französischer Herrschaft vor
dem Jahre 1815 hier sich gebildet, und seither durch Zuzug und Einwande¬
rung sich wesentlich verstärkt hatte. Ihr gemeinsames Organ war das
"Avenir de Rice". Diesen, durch die Jesuitenschule der Jgnorantelli und der


tistische Propaganda." Zahlreiche ähnliche Pronunciamentos im Theater und
auf der Straße enthält unsere Denkschrift, die natürlich sämmtlich mit der
Würde welthistorischer Ereignisse dem Leser vorgetragen werden. Größeren
Werth legen wir auf die wiederholte warme Anerkennung, welche die natio¬
nale Gesinnung und Opferfähigkeit der Nizzarden im italienischen Parlamente
fand, selbst aus dem Munde Cavour's.

Eine mächtige Förderung indessen erhielt die bis dahin kleine französische
Partei Nizzas, als im Jahr 1831 die italienische Regierung, sowohl aus fis-
calischen Gründen als um der Staatseinheit Willen, die Freihafenstellung der
Stadt aufhob. Man konnte hier erleben, wieviel doch in diesem Italien von
dem alten starren Municipalgeist bis auf unsere Tage gekommen war. Stellt
doch selbst die vorliegende Denkschrift zum Schlüsse die Alternative auf: ent¬
weder Rückkehr zum italienischen Gesammtstaat oder — „wenigstens" ein selb¬
ständiger Freistaat Nizza! Das ganze niedere Volk der Stadt, angefeuert
durch den Klerus, unterstützt durch die Hunderte fremder und heimathloser
Elemente, denen die See das Baterland ist, oder die hier des Genusses, der
Heilung oder des Gewinnes halber ihre Tage hinbrachten, erhob sich zum
Aufruhr. Wilde Massen zogen auf die Piazza d. S. Francesco und ver¬
langten die Aufrechterhaltung ihrer uralten Freiheiten, die ihnen beschworen
seien seit 1388, als die Grafschaft „aus freiem Willen" sich unter das Haus
von Savoyen fügte. Die Menge zwar wurde zerstreut, aber die Gemeinde¬
behörden selbst ließen sich zu einem unziemlichen Protest wider die Regierung
hinreißen, bezeichnend genug in französischer Sprache. Die fremde Sprache
selbst war eine Drohung. Die Verhaftung der Petenten — die theilweise in
tiefster Nacht erfolgte — war die Antwort von Turin. Damit war der
kleine Pulses beseitigt und nicht minder der Freihafen. Aber nun kehrte auch
ruhige Ueberlegung zurück. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung
schämte sich bald ihrer spießbürgerlichen Gesinnung, in Erkenntniß ihrer
Pflichten gegen das Gedeihen und die Einheit ihres großen Vaterlandes; so
zwar, daß Camillo Cavour schon am 6. Mai 1851 im Parlament erklären
konnte: „Die Bürger von Nizza werden in Bälde den Vortheil unserer freien
Institutionen schätzen lernen und dann sich glücklich preisen, ein Theil unserer
subalpinischen Familie zu sein." Aber die fremden Kaufleute und der Klerus
— der zum ersten Male hier die starke Hand der nationalen Dynastie der
Italiener empfunden hatte — bildeten von dieser Stunde ab den Kern der fran¬
zösischen Agitation in Nizza. Dazu gesellte sich der eigentlich französische Be¬
standtheil der Stadt, der in den zwanzig Jahren französischer Herrschaft vor
dem Jahre 1815 hier sich gebildet, und seither durch Zuzug und Einwande¬
rung sich wesentlich verstärkt hatte. Ihr gemeinsames Organ war das
„Avenir de Rice". Diesen, durch die Jesuitenschule der Jgnorantelli und der


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[0132] tistische Propaganda." Zahlreiche ähnliche Pronunciamentos im Theater und auf der Straße enthält unsere Denkschrift, die natürlich sämmtlich mit der Würde welthistorischer Ereignisse dem Leser vorgetragen werden. Größeren Werth legen wir auf die wiederholte warme Anerkennung, welche die natio¬ nale Gesinnung und Opferfähigkeit der Nizzarden im italienischen Parlamente fand, selbst aus dem Munde Cavour's. Eine mächtige Förderung indessen erhielt die bis dahin kleine französische Partei Nizzas, als im Jahr 1831 die italienische Regierung, sowohl aus fis- calischen Gründen als um der Staatseinheit Willen, die Freihafenstellung der Stadt aufhob. Man konnte hier erleben, wieviel doch in diesem Italien von dem alten starren Municipalgeist bis auf unsere Tage gekommen war. Stellt doch selbst die vorliegende Denkschrift zum Schlüsse die Alternative auf: ent¬ weder Rückkehr zum italienischen Gesammtstaat oder — „wenigstens" ein selb¬ ständiger Freistaat Nizza! Das ganze niedere Volk der Stadt, angefeuert durch den Klerus, unterstützt durch die Hunderte fremder und heimathloser Elemente, denen die See das Baterland ist, oder die hier des Genusses, der Heilung oder des Gewinnes halber ihre Tage hinbrachten, erhob sich zum Aufruhr. Wilde Massen zogen auf die Piazza d. S. Francesco und ver¬ langten die Aufrechterhaltung ihrer uralten Freiheiten, die ihnen beschworen seien seit 1388, als die Grafschaft „aus freiem Willen" sich unter das Haus von Savoyen fügte. Die Menge zwar wurde zerstreut, aber die Gemeinde¬ behörden selbst ließen sich zu einem unziemlichen Protest wider die Regierung hinreißen, bezeichnend genug in französischer Sprache. Die fremde Sprache selbst war eine Drohung. Die Verhaftung der Petenten — die theilweise in tiefster Nacht erfolgte — war die Antwort von Turin. Damit war der kleine Pulses beseitigt und nicht minder der Freihafen. Aber nun kehrte auch ruhige Ueberlegung zurück. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung schämte sich bald ihrer spießbürgerlichen Gesinnung, in Erkenntniß ihrer Pflichten gegen das Gedeihen und die Einheit ihres großen Vaterlandes; so zwar, daß Camillo Cavour schon am 6. Mai 1851 im Parlament erklären konnte: „Die Bürger von Nizza werden in Bälde den Vortheil unserer freien Institutionen schätzen lernen und dann sich glücklich preisen, ein Theil unserer subalpinischen Familie zu sein." Aber die fremden Kaufleute und der Klerus — der zum ersten Male hier die starke Hand der nationalen Dynastie der Italiener empfunden hatte — bildeten von dieser Stunde ab den Kern der fran¬ zösischen Agitation in Nizza. Dazu gesellte sich der eigentlich französische Be¬ standtheil der Stadt, der in den zwanzig Jahren französischer Herrschaft vor dem Jahre 1815 hier sich gebildet, und seither durch Zuzug und Einwande¬ rung sich wesentlich verstärkt hatte. Ihr gemeinsames Organ war das „Avenir de Rice". Diesen, durch die Jesuitenschule der Jgnorantelli und der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/132>, abgerufen am 23.07.2024.