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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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zu bereiten. Es kam die Zeit, welche uns Professor Heine als unabweislich
vorhergesagt hatte: die fatale Stunde, in der ein Stabsarzt mit oberherrlicher
Gewalt eintritt, um das, was mühselig errichtet, liebevoll gepflegt und erhal¬
ten ward, mit eisernem Scepter zu beherrschen.

Abgesehen von jeder Persönlichkeit, welche der Zufall einer solchen An¬
stalt zuwerfen kann, liegt etwas Empörendes in dem Geschäftsgang selbst,
was die Arbeitslust lähmt und die Hingebung zu entkräften angethan ist.
Wie groß die Willkür bei solchen Anlässen Spielraum behält, bezeugt der
Umstand, daß es Fälle gibt, in denen ein Stabsarzt sein Regiment sucht; er
glaubt es nicht erreichen zu können, findet das Leben in einem geordneten
Lazarett) bequemer, er bleibt, macht sich den ihm manchmal weit überlegenen
Civilärzten unangenehm, erhält später vielleicht einen Verweis von seinem Ge¬
neral, weil er bei seinem Regiment nicht eintraf; damit ist aber weder dem
Regiment noch dem Lazarett) gedient. Daß ein ungewichster Stiefel eine grö¬
ßere Aufregung hervorrief, als ein" unter einem großen Gypsverband einge¬
tretene Blutung, habe ich mit eigenen Augen gesehen. - Wie sehr ein treues
Zusammenhalten über Schwierigkeiten hinaushilft, erprobten wir in unserem
Verhältniß zu Heine. Nur seine Befehle waren für uns maßgebend, mit ihm
ging jede Arbeit rasch und leicht von statten. Es war bequem so, da er für
Alle dachte, und jeder bei näherer Prüfung sich stets gestehen mußte, es sei
gut, so wie er es angeordnet, es habe nicht besser ersonnen werden können.

Unsere Verwundeten waren zum größten Theil allmählich so weit gebracht
worden, daß wir sie nach Deutschland evacuiren konnten. Es blieben noch
etwa 70 Schwerverwundete, ohne die Abtheilung Simonin's. Professor Heine
beschloß, diese unsere Pfleglinge selbst nach der Heimath zu bringen; ein Sa¬
nitätszug aus Württemberg sollte kommen; Alle warteten mit Sehnsucht
darauf. -- Warum er nicht kam, habe ich nie erfahren können. Heine ent¬
schloß sich endlich, von den Umständen gedrängt, selbst einen Zug zu impro-
visiren. Es war nichts zu haben, als eine Anzahl von Güter- und bedeckten
Viehwagen; sie wurden von dem Bahnhof in den Vorhof des nahen Taback-
spitales gezogen, wohin die Schienen liefen. "Antreten!" hieß es. Unser
Personal wurde zu den Waggons befohlen. Heine vertheilte die Räumlich¬
keiten. Jeder Arzt schrieb seinen Namen auf den ihm zugetheilten Wagen,
und sofort ging's an die Arbeit.

Jeder Arzt übernahm die Sorge und Verantwortung für den ihm zu¬
getheilten Raum. Siebenzig Bettstellen mit elastischem Rost, die Pfosten auf
gepolsterte Kißchen, genagelt wurden angebracht, der Boden mit Kokosmatten
belegt; Geschirr, Verbandzeug. Alles an Ort und Stelle gebracht; mit strenger
Genauigkeit und möglichster Kürze Alles vollendet. Der Küchenwagen war
nicht der schlechteste von allen in seiner Ausrüstung; wenn auch der Raum


zu bereiten. Es kam die Zeit, welche uns Professor Heine als unabweislich
vorhergesagt hatte: die fatale Stunde, in der ein Stabsarzt mit oberherrlicher
Gewalt eintritt, um das, was mühselig errichtet, liebevoll gepflegt und erhal¬
ten ward, mit eisernem Scepter zu beherrschen.

Abgesehen von jeder Persönlichkeit, welche der Zufall einer solchen An¬
stalt zuwerfen kann, liegt etwas Empörendes in dem Geschäftsgang selbst,
was die Arbeitslust lähmt und die Hingebung zu entkräften angethan ist.
Wie groß die Willkür bei solchen Anlässen Spielraum behält, bezeugt der
Umstand, daß es Fälle gibt, in denen ein Stabsarzt sein Regiment sucht; er
glaubt es nicht erreichen zu können, findet das Leben in einem geordneten
Lazarett) bequemer, er bleibt, macht sich den ihm manchmal weit überlegenen
Civilärzten unangenehm, erhält später vielleicht einen Verweis von seinem Ge¬
neral, weil er bei seinem Regiment nicht eintraf; damit ist aber weder dem
Regiment noch dem Lazarett) gedient. Daß ein ungewichster Stiefel eine grö¬
ßere Aufregung hervorrief, als ein« unter einem großen Gypsverband einge¬
tretene Blutung, habe ich mit eigenen Augen gesehen. - Wie sehr ein treues
Zusammenhalten über Schwierigkeiten hinaushilft, erprobten wir in unserem
Verhältniß zu Heine. Nur seine Befehle waren für uns maßgebend, mit ihm
ging jede Arbeit rasch und leicht von statten. Es war bequem so, da er für
Alle dachte, und jeder bei näherer Prüfung sich stets gestehen mußte, es sei
gut, so wie er es angeordnet, es habe nicht besser ersonnen werden können.

Unsere Verwundeten waren zum größten Theil allmählich so weit gebracht
worden, daß wir sie nach Deutschland evacuiren konnten. Es blieben noch
etwa 70 Schwerverwundete, ohne die Abtheilung Simonin's. Professor Heine
beschloß, diese unsere Pfleglinge selbst nach der Heimath zu bringen; ein Sa¬
nitätszug aus Württemberg sollte kommen; Alle warteten mit Sehnsucht
darauf. — Warum er nicht kam, habe ich nie erfahren können. Heine ent¬
schloß sich endlich, von den Umständen gedrängt, selbst einen Zug zu impro-
visiren. Es war nichts zu haben, als eine Anzahl von Güter- und bedeckten
Viehwagen; sie wurden von dem Bahnhof in den Vorhof des nahen Taback-
spitales gezogen, wohin die Schienen liefen. „Antreten!" hieß es. Unser
Personal wurde zu den Waggons befohlen. Heine vertheilte die Räumlich¬
keiten. Jeder Arzt schrieb seinen Namen auf den ihm zugetheilten Wagen,
und sofort ging's an die Arbeit.

Jeder Arzt übernahm die Sorge und Verantwortung für den ihm zu¬
getheilten Raum. Siebenzig Bettstellen mit elastischem Rost, die Pfosten auf
gepolsterte Kißchen, genagelt wurden angebracht, der Boden mit Kokosmatten
belegt; Geschirr, Verbandzeug. Alles an Ort und Stelle gebracht; mit strenger
Genauigkeit und möglichster Kürze Alles vollendet. Der Küchenwagen war
nicht der schlechteste von allen in seiner Ausrüstung; wenn auch der Raum


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[0127] zu bereiten. Es kam die Zeit, welche uns Professor Heine als unabweislich vorhergesagt hatte: die fatale Stunde, in der ein Stabsarzt mit oberherrlicher Gewalt eintritt, um das, was mühselig errichtet, liebevoll gepflegt und erhal¬ ten ward, mit eisernem Scepter zu beherrschen. Abgesehen von jeder Persönlichkeit, welche der Zufall einer solchen An¬ stalt zuwerfen kann, liegt etwas Empörendes in dem Geschäftsgang selbst, was die Arbeitslust lähmt und die Hingebung zu entkräften angethan ist. Wie groß die Willkür bei solchen Anlässen Spielraum behält, bezeugt der Umstand, daß es Fälle gibt, in denen ein Stabsarzt sein Regiment sucht; er glaubt es nicht erreichen zu können, findet das Leben in einem geordneten Lazarett) bequemer, er bleibt, macht sich den ihm manchmal weit überlegenen Civilärzten unangenehm, erhält später vielleicht einen Verweis von seinem Ge¬ neral, weil er bei seinem Regiment nicht eintraf; damit ist aber weder dem Regiment noch dem Lazarett) gedient. Daß ein ungewichster Stiefel eine grö¬ ßere Aufregung hervorrief, als ein« unter einem großen Gypsverband einge¬ tretene Blutung, habe ich mit eigenen Augen gesehen. - Wie sehr ein treues Zusammenhalten über Schwierigkeiten hinaushilft, erprobten wir in unserem Verhältniß zu Heine. Nur seine Befehle waren für uns maßgebend, mit ihm ging jede Arbeit rasch und leicht von statten. Es war bequem so, da er für Alle dachte, und jeder bei näherer Prüfung sich stets gestehen mußte, es sei gut, so wie er es angeordnet, es habe nicht besser ersonnen werden können. Unsere Verwundeten waren zum größten Theil allmählich so weit gebracht worden, daß wir sie nach Deutschland evacuiren konnten. Es blieben noch etwa 70 Schwerverwundete, ohne die Abtheilung Simonin's. Professor Heine beschloß, diese unsere Pfleglinge selbst nach der Heimath zu bringen; ein Sa¬ nitätszug aus Württemberg sollte kommen; Alle warteten mit Sehnsucht darauf. — Warum er nicht kam, habe ich nie erfahren können. Heine ent¬ schloß sich endlich, von den Umständen gedrängt, selbst einen Zug zu impro- visiren. Es war nichts zu haben, als eine Anzahl von Güter- und bedeckten Viehwagen; sie wurden von dem Bahnhof in den Vorhof des nahen Taback- spitales gezogen, wohin die Schienen liefen. „Antreten!" hieß es. Unser Personal wurde zu den Waggons befohlen. Heine vertheilte die Räumlich¬ keiten. Jeder Arzt schrieb seinen Namen auf den ihm zugetheilten Wagen, und sofort ging's an die Arbeit. Jeder Arzt übernahm die Sorge und Verantwortung für den ihm zu¬ getheilten Raum. Siebenzig Bettstellen mit elastischem Rost, die Pfosten auf gepolsterte Kißchen, genagelt wurden angebracht, der Boden mit Kokosmatten belegt; Geschirr, Verbandzeug. Alles an Ort und Stelle gebracht; mit strenger Genauigkeit und möglichster Kürze Alles vollendet. Der Küchenwagen war nicht der schlechteste von allen in seiner Ausrüstung; wenn auch der Raum

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/127>, abgerufen am 01.10.2024.