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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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stand, dann kann nicht ausbleiben, daß das verhängnisvolle Wort
lauter und immer häufiger ausgesprochen wird. Daß das Gefühl der
Hilflosigkeit sich überall bemerkbar macht, zeigt nur zu deutlich der Rapport
der Commission der zweiren Kammer für die vorläufige Untersuchung des
Armeebudgets, worin es u. A, wörtlich heißt: "Könnte und wollte man auch
ungeheure Summen für die Landesvertheidigung ausgeben, so würde solches
doch nur hoffnungslos sein, weil zweifelhaft wäre, ob auf diesem Wege
die Selbständigkeit unserer Nation gesichert würde." Man gibt sich selbst in
den Kammern lieber einer solchen Resignation hin, als Hand ans Werk zu
legen. Und Arbeit, dringende Arbeit ist im Ueberfluß vorhanden, Arbeit die
gethan werden muß. Unser Militärwesen muß reorganisirt werden, und
unser Steuersystem gründlich verändert. Darüber ist Niemand im Zweifel.
Aber die Bourgeoisie will ihr Leben dem Vaterlands nicht opfern, was sie
nach dem einzig möglichen System, dem preußischen, doch thun müßte, und
ebenso wollen die Reichen die Steuerlast lieber auf die Aermeren schieben.
Beide, Steuer- und Militärreorganisation sind unzertrennlich, denn ohne die
erstere können wir die letztere nicht bezahlen. "Wir Holländer sind reich
genug um die Kosten unserer Selbständigkeit zu bezahlen!" hört man rufen;
aber es ist gar nicht wahr, es ist eine Lüge, mit der man das Volk schon zu
lange betrogen hat. Haben wir doch schon seit langen Jahren die Kosten
unserer Haushaltung nicht bestreiten können! Womit sollen wir nun noch
die erhöhten Bedürfniß? decken?

Der demoralisirende Einfluß unserer Colonialwirthschaft muß aufhören.
Indien geht seinem Untergang entgegen und das morscke Gebäude selbst¬
süchtiger, kurzsichtiger Handelspolitik droht einzustürzen und uns in seinem
Fall unberechenbaren Schaden zuzufügen. Wer wird den drohenden Ausfall
zahlen? Ihn zu tragen sind die "reichen Holländer" zu arm!

Rechtspflege und Gesetzgebung sind mangelhaft; für jeden geordneten
Staat ist dringende Pflicht, diese in gutem Zustande zu erhalten.

Man spricht hier wohl viel über den Wunsch Deutschlands uns
zu annectiren: aber wer will die Erbschaft unserer sterbenden Nation unter
solchen Verhältnissen antreten? Eine ungeheure Schuldenlast, jährliches De¬
ficit, ausgesogene Colonien, die eine schwere Bürde zu werden drohen, ge¬
lähmte Vvlksentwicklung und ein Volk, das an zuchtlosen Gebrauch der
Freiheit gewöhnt ist -- das Alles sind keine verlockenden Besitzungen. Und
doch ist kein anderes Mittel um unsere Selbständigkeit noch so lange als
möglich zu bewahren, als der nähere Anschluß an Deutschland.

Zuerst muß uns wirthschaftlich aufgeholfen werden. Unserm Handel,
unserer Industrie müssen neue Abzugseanäle eröffnet werden. Die Zolllinie
gegen Deutschland muß verschwinden und wir müssen uns mit dem Zollver-


stand, dann kann nicht ausbleiben, daß das verhängnisvolle Wort
lauter und immer häufiger ausgesprochen wird. Daß das Gefühl der
Hilflosigkeit sich überall bemerkbar macht, zeigt nur zu deutlich der Rapport
der Commission der zweiren Kammer für die vorläufige Untersuchung des
Armeebudgets, worin es u. A, wörtlich heißt: „Könnte und wollte man auch
ungeheure Summen für die Landesvertheidigung ausgeben, so würde solches
doch nur hoffnungslos sein, weil zweifelhaft wäre, ob auf diesem Wege
die Selbständigkeit unserer Nation gesichert würde." Man gibt sich selbst in
den Kammern lieber einer solchen Resignation hin, als Hand ans Werk zu
legen. Und Arbeit, dringende Arbeit ist im Ueberfluß vorhanden, Arbeit die
gethan werden muß. Unser Militärwesen muß reorganisirt werden, und
unser Steuersystem gründlich verändert. Darüber ist Niemand im Zweifel.
Aber die Bourgeoisie will ihr Leben dem Vaterlands nicht opfern, was sie
nach dem einzig möglichen System, dem preußischen, doch thun müßte, und
ebenso wollen die Reichen die Steuerlast lieber auf die Aermeren schieben.
Beide, Steuer- und Militärreorganisation sind unzertrennlich, denn ohne die
erstere können wir die letztere nicht bezahlen. „Wir Holländer sind reich
genug um die Kosten unserer Selbständigkeit zu bezahlen!" hört man rufen;
aber es ist gar nicht wahr, es ist eine Lüge, mit der man das Volk schon zu
lange betrogen hat. Haben wir doch schon seit langen Jahren die Kosten
unserer Haushaltung nicht bestreiten können! Womit sollen wir nun noch
die erhöhten Bedürfniß? decken?

Der demoralisirende Einfluß unserer Colonialwirthschaft muß aufhören.
Indien geht seinem Untergang entgegen und das morscke Gebäude selbst¬
süchtiger, kurzsichtiger Handelspolitik droht einzustürzen und uns in seinem
Fall unberechenbaren Schaden zuzufügen. Wer wird den drohenden Ausfall
zahlen? Ihn zu tragen sind die „reichen Holländer" zu arm!

Rechtspflege und Gesetzgebung sind mangelhaft; für jeden geordneten
Staat ist dringende Pflicht, diese in gutem Zustande zu erhalten.

Man spricht hier wohl viel über den Wunsch Deutschlands uns
zu annectiren: aber wer will die Erbschaft unserer sterbenden Nation unter
solchen Verhältnissen antreten? Eine ungeheure Schuldenlast, jährliches De¬
ficit, ausgesogene Colonien, die eine schwere Bürde zu werden drohen, ge¬
lähmte Vvlksentwicklung und ein Volk, das an zuchtlosen Gebrauch der
Freiheit gewöhnt ist — das Alles sind keine verlockenden Besitzungen. Und
doch ist kein anderes Mittel um unsere Selbständigkeit noch so lange als
möglich zu bewahren, als der nähere Anschluß an Deutschland.

Zuerst muß uns wirthschaftlich aufgeholfen werden. Unserm Handel,
unserer Industrie müssen neue Abzugseanäle eröffnet werden. Die Zolllinie
gegen Deutschland muß verschwinden und wir müssen uns mit dem Zollver-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/123>, abgerufen am 03.07.2024.