Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

-- denn dazu hat Jeder das Recht -- sondern sehr häufig in kleinlicher, be¬
leidigender Weise geübt. Man schämt sich nicht, die Person eines Ministers
zu verdächtigen und ihm unverdiente heftige Vorwürfe zu machen.

So sind wir nun seit zwei Monaten ohne eine eigentliche Regierung,
denn es ist noch nicht gelungen ein neues Ministerium zu bilden. Allen
Parteien ist dasselbe angeboten, keine hat es bis heute angenommen*). Die
Konservativen sind in der Kammer zu schwach vertreten-, die Liberalen, die
seit dem Jahre 1848 unter der Führung Thorbecke's durchgängig die Majo¬
rität besaßen, sind in atomistische Fractionen zersplittert, von welchen jede
einzelne lebensunfähig ist. Niemand hat die Kraft oder den Willen das Amt
zu übernehmen. Männer, die im Stande wären, den Gang der Geschäfte
fortzuführen, wollen ihre Stellung, ihren Namen und ihre Persönlichkeit nicht
hergeben, um solche nicht in den kleinlichen Zänkereien der Kammern ver¬
nichtet zu sehen. Kaum wird der Name eines möglichen Minister-Candidaten
genannt, so ist er den schamlosesten Angriffen ausgesetzt. Der Mißbrauch,
den unsere Presse von ihrer Freiheit macht, wird nachgerade unerträglich.

Ein allgemeines Verlangen nach einem Manne, der die Zügel der Re¬
gierung mit kräftiger Hand ergreift, gibt sich kund. Die Niederländer haben
das Glück gehabt, daß in schwierigen Zeiten, in entscheidenden Krisen sich
tüchtige Männer an ihre Spitze gestellt und sie gerettet haben. Sollte das
Volk auch solche Charaktere nicht mehr hervorbringen können? Bis jetzt ist
der Retter noch nicht erschienen, und Niemand weiß, woher er kommen soll.
Manche hoffen von Thorbecke noch etwas Gutes, aber ein Führer, der seine
Partei nicht mehr zusammenzuhalten kann, wird wohl nichts Großes mehr
leisten.

Und würde die Kraft eines einzelnen Mannes hinreichen, um ohne Mit¬
hilfe für ein ganzes Volk zu handeln, ja noch dazu dessen widerstrebende
Elemente zu überwinden? In dem, was in den letzten Jahren bei uns ge¬
schehen ist, war kein leitender Gedanke, kein Plan, und was wir jetzt thun
müssen, oder welchem Ziele man uns zuführen muß, ist ebenso im Dunkeln.
Und doch weiß Jeder, daß es so nicht länger bleiben kann. Was soll aus
unserer Zukunft werden?

Annexion, hört man hin und wieder mit einem Stoßseufzer äußern.
Daß Manchem dieses Mittel, um zu einem vielleicht bessern Zustand zu
kommen, unvermeidlich vorkommt, ist wohl erklärlich, aber traurig. Man
spricht zwar leise davon, aber es ist doch schlimm genug, wenn ein Volk
den Glauben an seine Zukunft verloren hat. Allerdings sind diese Stimmen
noch vereinzelt -- aber bleiben wir noch länger in unserem gegenwärtigen Zu-



') Seil Abfassung des Artikels unseres Herrn Correspondenten hat sich in den jüngsten
D. Red. Tagen ein Ministerium TlMbecke gebildet.

— denn dazu hat Jeder das Recht — sondern sehr häufig in kleinlicher, be¬
leidigender Weise geübt. Man schämt sich nicht, die Person eines Ministers
zu verdächtigen und ihm unverdiente heftige Vorwürfe zu machen.

So sind wir nun seit zwei Monaten ohne eine eigentliche Regierung,
denn es ist noch nicht gelungen ein neues Ministerium zu bilden. Allen
Parteien ist dasselbe angeboten, keine hat es bis heute angenommen*). Die
Konservativen sind in der Kammer zu schwach vertreten-, die Liberalen, die
seit dem Jahre 1848 unter der Führung Thorbecke's durchgängig die Majo¬
rität besaßen, sind in atomistische Fractionen zersplittert, von welchen jede
einzelne lebensunfähig ist. Niemand hat die Kraft oder den Willen das Amt
zu übernehmen. Männer, die im Stande wären, den Gang der Geschäfte
fortzuführen, wollen ihre Stellung, ihren Namen und ihre Persönlichkeit nicht
hergeben, um solche nicht in den kleinlichen Zänkereien der Kammern ver¬
nichtet zu sehen. Kaum wird der Name eines möglichen Minister-Candidaten
genannt, so ist er den schamlosesten Angriffen ausgesetzt. Der Mißbrauch,
den unsere Presse von ihrer Freiheit macht, wird nachgerade unerträglich.

Ein allgemeines Verlangen nach einem Manne, der die Zügel der Re¬
gierung mit kräftiger Hand ergreift, gibt sich kund. Die Niederländer haben
das Glück gehabt, daß in schwierigen Zeiten, in entscheidenden Krisen sich
tüchtige Männer an ihre Spitze gestellt und sie gerettet haben. Sollte das
Volk auch solche Charaktere nicht mehr hervorbringen können? Bis jetzt ist
der Retter noch nicht erschienen, und Niemand weiß, woher er kommen soll.
Manche hoffen von Thorbecke noch etwas Gutes, aber ein Führer, der seine
Partei nicht mehr zusammenzuhalten kann, wird wohl nichts Großes mehr
leisten.

Und würde die Kraft eines einzelnen Mannes hinreichen, um ohne Mit¬
hilfe für ein ganzes Volk zu handeln, ja noch dazu dessen widerstrebende
Elemente zu überwinden? In dem, was in den letzten Jahren bei uns ge¬
schehen ist, war kein leitender Gedanke, kein Plan, und was wir jetzt thun
müssen, oder welchem Ziele man uns zuführen muß, ist ebenso im Dunkeln.
Und doch weiß Jeder, daß es so nicht länger bleiben kann. Was soll aus
unserer Zukunft werden?

Annexion, hört man hin und wieder mit einem Stoßseufzer äußern.
Daß Manchem dieses Mittel, um zu einem vielleicht bessern Zustand zu
kommen, unvermeidlich vorkommt, ist wohl erklärlich, aber traurig. Man
spricht zwar leise davon, aber es ist doch schlimm genug, wenn ein Volk
den Glauben an seine Zukunft verloren hat. Allerdings sind diese Stimmen
noch vereinzelt — aber bleiben wir noch länger in unserem gegenwärtigen Zu-



') Seil Abfassung des Artikels unseres Herrn Correspondenten hat sich in den jüngsten
D. Red. Tagen ein Ministerium TlMbecke gebildet.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0122" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/125366"/>
            <p xml:id="ID_451" prev="#ID_450"> &#x2014; denn dazu hat Jeder das Recht &#x2014; sondern sehr häufig in kleinlicher, be¬<lb/>
leidigender Weise geübt. Man schämt sich nicht, die Person eines Ministers<lb/>
zu verdächtigen und ihm unverdiente heftige Vorwürfe zu machen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_452"> So sind wir nun seit zwei Monaten ohne eine eigentliche Regierung,<lb/>
denn es ist noch nicht gelungen ein neues Ministerium zu bilden. Allen<lb/>
Parteien ist dasselbe angeboten, keine hat es bis heute angenommen*). Die<lb/>
Konservativen sind in der Kammer zu schwach vertreten-, die Liberalen, die<lb/>
seit dem Jahre 1848 unter der Führung Thorbecke's durchgängig die Majo¬<lb/>
rität besaßen, sind in atomistische Fractionen zersplittert, von welchen jede<lb/>
einzelne lebensunfähig ist. Niemand hat die Kraft oder den Willen das Amt<lb/>
zu übernehmen. Männer, die im Stande wären, den Gang der Geschäfte<lb/>
fortzuführen, wollen ihre Stellung, ihren Namen und ihre Persönlichkeit nicht<lb/>
hergeben, um solche nicht in den kleinlichen Zänkereien der Kammern ver¬<lb/>
nichtet zu sehen. Kaum wird der Name eines möglichen Minister-Candidaten<lb/>
genannt, so ist er den schamlosesten Angriffen ausgesetzt. Der Mißbrauch,<lb/>
den unsere Presse von ihrer Freiheit macht, wird nachgerade unerträglich.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_453"> Ein allgemeines Verlangen nach einem Manne, der die Zügel der Re¬<lb/>
gierung mit kräftiger Hand ergreift, gibt sich kund. Die Niederländer haben<lb/>
das Glück gehabt, daß in schwierigen Zeiten, in entscheidenden Krisen sich<lb/>
tüchtige Männer an ihre Spitze gestellt und sie gerettet haben. Sollte das<lb/>
Volk auch solche Charaktere nicht mehr hervorbringen können? Bis jetzt ist<lb/>
der Retter noch nicht erschienen, und Niemand weiß, woher er kommen soll.<lb/>
Manche hoffen von Thorbecke noch etwas Gutes, aber ein Führer, der seine<lb/>
Partei nicht mehr zusammenzuhalten kann, wird wohl nichts Großes mehr<lb/>
leisten.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_454"> Und würde die Kraft eines einzelnen Mannes hinreichen, um ohne Mit¬<lb/>
hilfe für ein ganzes Volk zu handeln, ja noch dazu dessen widerstrebende<lb/>
Elemente zu überwinden? In dem, was in den letzten Jahren bei uns ge¬<lb/>
schehen ist, war kein leitender Gedanke, kein Plan, und was wir jetzt thun<lb/>
müssen, oder welchem Ziele man uns zuführen muß, ist ebenso im Dunkeln.<lb/>
Und doch weiß Jeder, daß es so nicht länger bleiben kann. Was soll aus<lb/>
unserer Zukunft werden?</p><lb/>
            <p xml:id="ID_455" next="#ID_456"> Annexion, hört man hin und wieder mit einem Stoßseufzer äußern.<lb/>
Daß Manchem dieses Mittel, um zu einem vielleicht bessern Zustand zu<lb/>
kommen, unvermeidlich vorkommt, ist wohl erklärlich, aber traurig. Man<lb/>
spricht zwar leise davon, aber es ist doch schlimm genug, wenn ein Volk<lb/>
den Glauben an seine Zukunft verloren hat. Allerdings sind diese Stimmen<lb/>
noch vereinzelt &#x2014; aber bleiben wir noch länger in unserem gegenwärtigen Zu-</p><lb/>
            <note xml:id="FID_14" place="foot"> ') Seil Abfassung des Artikels unseres Herrn Correspondenten hat sich in den jüngsten<lb/><note type="byline"> D. Red.</note> Tagen ein Ministerium TlMbecke gebildet. </note><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0122] — denn dazu hat Jeder das Recht — sondern sehr häufig in kleinlicher, be¬ leidigender Weise geübt. Man schämt sich nicht, die Person eines Ministers zu verdächtigen und ihm unverdiente heftige Vorwürfe zu machen. So sind wir nun seit zwei Monaten ohne eine eigentliche Regierung, denn es ist noch nicht gelungen ein neues Ministerium zu bilden. Allen Parteien ist dasselbe angeboten, keine hat es bis heute angenommen*). Die Konservativen sind in der Kammer zu schwach vertreten-, die Liberalen, die seit dem Jahre 1848 unter der Führung Thorbecke's durchgängig die Majo¬ rität besaßen, sind in atomistische Fractionen zersplittert, von welchen jede einzelne lebensunfähig ist. Niemand hat die Kraft oder den Willen das Amt zu übernehmen. Männer, die im Stande wären, den Gang der Geschäfte fortzuführen, wollen ihre Stellung, ihren Namen und ihre Persönlichkeit nicht hergeben, um solche nicht in den kleinlichen Zänkereien der Kammern ver¬ nichtet zu sehen. Kaum wird der Name eines möglichen Minister-Candidaten genannt, so ist er den schamlosesten Angriffen ausgesetzt. Der Mißbrauch, den unsere Presse von ihrer Freiheit macht, wird nachgerade unerträglich. Ein allgemeines Verlangen nach einem Manne, der die Zügel der Re¬ gierung mit kräftiger Hand ergreift, gibt sich kund. Die Niederländer haben das Glück gehabt, daß in schwierigen Zeiten, in entscheidenden Krisen sich tüchtige Männer an ihre Spitze gestellt und sie gerettet haben. Sollte das Volk auch solche Charaktere nicht mehr hervorbringen können? Bis jetzt ist der Retter noch nicht erschienen, und Niemand weiß, woher er kommen soll. Manche hoffen von Thorbecke noch etwas Gutes, aber ein Führer, der seine Partei nicht mehr zusammenzuhalten kann, wird wohl nichts Großes mehr leisten. Und würde die Kraft eines einzelnen Mannes hinreichen, um ohne Mit¬ hilfe für ein ganzes Volk zu handeln, ja noch dazu dessen widerstrebende Elemente zu überwinden? In dem, was in den letzten Jahren bei uns ge¬ schehen ist, war kein leitender Gedanke, kein Plan, und was wir jetzt thun müssen, oder welchem Ziele man uns zuführen muß, ist ebenso im Dunkeln. Und doch weiß Jeder, daß es so nicht länger bleiben kann. Was soll aus unserer Zukunft werden? Annexion, hört man hin und wieder mit einem Stoßseufzer äußern. Daß Manchem dieses Mittel, um zu einem vielleicht bessern Zustand zu kommen, unvermeidlich vorkommt, ist wohl erklärlich, aber traurig. Man spricht zwar leise davon, aber es ist doch schlimm genug, wenn ein Volk den Glauben an seine Zukunft verloren hat. Allerdings sind diese Stimmen noch vereinzelt — aber bleiben wir noch länger in unserem gegenwärtigen Zu- ') Seil Abfassung des Artikels unseres Herrn Correspondenten hat sich in den jüngsten D. Red. Tagen ein Ministerium TlMbecke gebildet.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/122
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/122>, abgerufen am 03.07.2024.