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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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wir wirklich in den Krieg hineingezogen worden, dann hätten wir eine traurige
Rolle spielen müssen.

Die ganze sogenannte Vertheidigung unserer Neutralität kostet unserer
Bourgeoisie nicht viel. Sie hat sich ja doch vom Kriegsdienst losgekauft, und
die vier Millionen, welche dem Ministerium dafür bewilligt wurden, wird
Indien wohl wieder tragen müssen: denn daß sie aus eignen Mitteln bezahlt
werden, dazu ist vorläufig noch leine Aussicht. Und unsere untern Klassen,
die als Einberufene Mangel leiden mußten, sind geduldig.

Aber das Schlimmste in unserm gegenwärtigen Zustand ist, daß unsere
innern Angelegenheiten an einer fast an Auflösung grenzenden Verwirrung
leiden. Gegen Mitte Septembers wurde die diesjährige Kammersitzung eröffnet.
Das erste bedeutendere Gesetz, das zur Berathschlagung kam, war das
Budget für Ostindien, welches von unserem gewöhnlichen Budget getrennt ist.
Dasselbe wurde in der zweiten Kammer angenommen mit einem Amendement
des Abgeordneten Mirandolle, welches die Belohnung für die Kaffee pflanzenden
Bewohner der Preanger Regentschaften mit der für die anderen Residentien gleich¬
stellte. Bei der Berathschlagung über diesen Punkt widersetzte der Minister
de Waal und die Minorität sich diesem Amendement, weil den Bewohnern
der Preanger Regentschaften die im übrigen Java erhobene Landrentensteuer
erlassen sei. Es stellte sich aber heraus -- was übrigens bekannt ist -- daß
die Negierung sowohl als das Publicum mit den indischen Zuständen nicht
vollkommen bekannt sind. In der ersten Kammer wurde indessen das Budget
verworfen, weil der Minister de Waal inzwischen seine Demission genommen
hatte. Ein anderer Grund wurde wenigstens nicht angegeben; ob derselbe
aber hinreichend ist, um ein von der zweiten Kammer angenommenes Gesetz
zu verwerfen, ist mindestens zweifelhaft; durch ein solches Verfahren verur¬
theilt man die Person und nicht die Handlungen eines Ministers. Dadurch
ist ganz unmöglich geworden, daß das Budget rechtzeitig in Indien be¬
kannt wird, und mit dem 1. Januar 1871 tritt dort eine budgetlose Zeit
ein. Hätte Herr de Waal, oder ein neuer Colonial-Minister, sofort ein
Creditgesetz vor die Kammer gebracht, dann hätte dem Uebelstand einigermaßen
abgeholfen werden können. Aber statt einen neuen Minister zu bekommen,
sahen wir alsbald das ganze Ministerium abtreten. Vom Kriegsminister
war dieser Schritt erklärlich, da ihm die bei der Mobilisirung ans Licht ge¬
tretenen Mängel zur Last gelegt wurden. Was aber die anderen Minister
bewegen konnte, in einer so schwierigen Zeit ihr Amt niederzulegen, ist Allen
ein Räthsel. Wohl hat das Ministerium Font- van Bosse in den zwei Jahren
seiner Regierung sehr wenig zu Stande gebracht, aber es hatte die Majorität
der Kammer für sich. Zwar ist ein Portefeuille bei uns ein sehr unange¬
nehmer Besitz. Die Kritik in und außer der Kammer wird nicht allein scharf


Grenzboten I. 1871. 15

wir wirklich in den Krieg hineingezogen worden, dann hätten wir eine traurige
Rolle spielen müssen.

Die ganze sogenannte Vertheidigung unserer Neutralität kostet unserer
Bourgeoisie nicht viel. Sie hat sich ja doch vom Kriegsdienst losgekauft, und
die vier Millionen, welche dem Ministerium dafür bewilligt wurden, wird
Indien wohl wieder tragen müssen: denn daß sie aus eignen Mitteln bezahlt
werden, dazu ist vorläufig noch leine Aussicht. Und unsere untern Klassen,
die als Einberufene Mangel leiden mußten, sind geduldig.

Aber das Schlimmste in unserm gegenwärtigen Zustand ist, daß unsere
innern Angelegenheiten an einer fast an Auflösung grenzenden Verwirrung
leiden. Gegen Mitte Septembers wurde die diesjährige Kammersitzung eröffnet.
Das erste bedeutendere Gesetz, das zur Berathschlagung kam, war das
Budget für Ostindien, welches von unserem gewöhnlichen Budget getrennt ist.
Dasselbe wurde in der zweiten Kammer angenommen mit einem Amendement
des Abgeordneten Mirandolle, welches die Belohnung für die Kaffee pflanzenden
Bewohner der Preanger Regentschaften mit der für die anderen Residentien gleich¬
stellte. Bei der Berathschlagung über diesen Punkt widersetzte der Minister
de Waal und die Minorität sich diesem Amendement, weil den Bewohnern
der Preanger Regentschaften die im übrigen Java erhobene Landrentensteuer
erlassen sei. Es stellte sich aber heraus — was übrigens bekannt ist — daß
die Negierung sowohl als das Publicum mit den indischen Zuständen nicht
vollkommen bekannt sind. In der ersten Kammer wurde indessen das Budget
verworfen, weil der Minister de Waal inzwischen seine Demission genommen
hatte. Ein anderer Grund wurde wenigstens nicht angegeben; ob derselbe
aber hinreichend ist, um ein von der zweiten Kammer angenommenes Gesetz
zu verwerfen, ist mindestens zweifelhaft; durch ein solches Verfahren verur¬
theilt man die Person und nicht die Handlungen eines Ministers. Dadurch
ist ganz unmöglich geworden, daß das Budget rechtzeitig in Indien be¬
kannt wird, und mit dem 1. Januar 1871 tritt dort eine budgetlose Zeit
ein. Hätte Herr de Waal, oder ein neuer Colonial-Minister, sofort ein
Creditgesetz vor die Kammer gebracht, dann hätte dem Uebelstand einigermaßen
abgeholfen werden können. Aber statt einen neuen Minister zu bekommen,
sahen wir alsbald das ganze Ministerium abtreten. Vom Kriegsminister
war dieser Schritt erklärlich, da ihm die bei der Mobilisirung ans Licht ge¬
tretenen Mängel zur Last gelegt wurden. Was aber die anderen Minister
bewegen konnte, in einer so schwierigen Zeit ihr Amt niederzulegen, ist Allen
ein Räthsel. Wohl hat das Ministerium Font- van Bosse in den zwei Jahren
seiner Regierung sehr wenig zu Stande gebracht, aber es hatte die Majorität
der Kammer für sich. Zwar ist ein Portefeuille bei uns ein sehr unange¬
nehmer Besitz. Die Kritik in und außer der Kammer wird nicht allein scharf


Grenzboten I. 1871. 15
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/121>, abgerufen am 22.07.2024.