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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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Trotz alledem ist Herr Green ehrlich genug, zu erkennen, daß auch die
Niederländer im weiteren Sinne des Wortes Deutsche sind. Er findet einen
innigen Anschluß an Deutschland, ein Schutz- und Trutzbündniß mit dem¬
selben sehr wünschenswert!). Was er damit meint, ein Defensiv-Bündniß
oder eine Militär-Convention, sagt er nicht. Für ersteres würde Deutschland
derzeit wohl danken, und durch die letztere wäre unsre Selbstständigkeit schon
theilweise verloren. Würden die Holländer das wollen?

Aber selbst den Einsichtsvolleren, welche die Natur des gegenwärtigen
Kampfes erkennen und den Deutschen in gewisser Hinsicht Recht widerfahren
lassen, wie z. B. Prof. Tellegen in seiner Broschüre: "Deutschland und Nie¬
derland", bleiben noch immer die Bedürfnisse der deutschen Nation, die ge¬
heimen Triebfedern, welche das Volk bewegen, fremd. Freilich, es ist für
den Ausländer eine ungemein schwierige Aufgabe, sich in die Kenntniß all
der kleinen und großen Verhältnisse und der verschiedenartigen Getriebe, welche
Ursache und Wirkung der deutschen Zersplitterung waren, hineinzuarbeiten.
Man kann sich nicht damit versöhnen, daß die Einigung Deutschlands mit
gewaltsamen Acten verbunden war, daß dabei nicht Alles so gleichmäßig par¬
lamentarisch in gesetzmäßiger Form stattgefunden hat. Und wie dem Hollän¬
der die eigne Staatsform zum politischen Dogma geworden ist, so legt er
diesen Maßstab selbstgenugsamer Vortrefflichkeit auch an Andere. Die
Deutschen werden uns wohl am allerwenigsten verübeln, daß wir vorläufig
unsere Staats-Einrichtung der ihrigen vorziehen; sie werden selbst erkennen,
daß wir mehr Freiheit genießen; aber nur Beschränktheit kann behaupten,
daß unser Parlamentarismus in Deutschland zum Ziele geführt hätte. Eine
sich kräftig und neu entwickelnde Nation hat ganz andere Bedürfnisse als eine
alte, fertige, wie wir, oder die Engländer.

Der Skepticismus der Holländer, ihr Mangel an Idealen beim Ein¬
zelnen sowohl als bei der Nation, hat sie zur Bemitleidung jener Persönlich¬
keiten gebracht, die im Streben nach höhern Zielen zu edler Aufopferung
schreiten, weil sie sich dazu berufen fühlen. Prof. Tellegen z. B. nennt solche
Leute Fanatiker. Muß nicht ein Volk, das alle Ideale principiell von sich
abweist, nicht verdorren? Oder sollen wir unser Stillleben als ein solches
betrachten?

Man würde sich täuschen, wenn man die Aufopferungsfähigkeit unseres
Volkes in den Begebenheiten dieses Sommers suchen wollte, z. B. in dem
pünktlichen Erscheinen der bei der Mobilifirung unserer Armee einberufenen
Mannschaften. Die Leute erschienen bereitwillig, wenn auch nicht gerne, aber
bezeichnend war die Ironie, mit welcher über die militären Maßregeln der
Regierung gesprochen wurde. Es stellte sich denn auch nur zu bald heraus,
daß für den Kriegszustand überall Alles mangelhaft organisirt war. Wären


Trotz alledem ist Herr Green ehrlich genug, zu erkennen, daß auch die
Niederländer im weiteren Sinne des Wortes Deutsche sind. Er findet einen
innigen Anschluß an Deutschland, ein Schutz- und Trutzbündniß mit dem¬
selben sehr wünschenswert!). Was er damit meint, ein Defensiv-Bündniß
oder eine Militär-Convention, sagt er nicht. Für ersteres würde Deutschland
derzeit wohl danken, und durch die letztere wäre unsre Selbstständigkeit schon
theilweise verloren. Würden die Holländer das wollen?

Aber selbst den Einsichtsvolleren, welche die Natur des gegenwärtigen
Kampfes erkennen und den Deutschen in gewisser Hinsicht Recht widerfahren
lassen, wie z. B. Prof. Tellegen in seiner Broschüre: „Deutschland und Nie¬
derland", bleiben noch immer die Bedürfnisse der deutschen Nation, die ge¬
heimen Triebfedern, welche das Volk bewegen, fremd. Freilich, es ist für
den Ausländer eine ungemein schwierige Aufgabe, sich in die Kenntniß all
der kleinen und großen Verhältnisse und der verschiedenartigen Getriebe, welche
Ursache und Wirkung der deutschen Zersplitterung waren, hineinzuarbeiten.
Man kann sich nicht damit versöhnen, daß die Einigung Deutschlands mit
gewaltsamen Acten verbunden war, daß dabei nicht Alles so gleichmäßig par¬
lamentarisch in gesetzmäßiger Form stattgefunden hat. Und wie dem Hollän¬
der die eigne Staatsform zum politischen Dogma geworden ist, so legt er
diesen Maßstab selbstgenugsamer Vortrefflichkeit auch an Andere. Die
Deutschen werden uns wohl am allerwenigsten verübeln, daß wir vorläufig
unsere Staats-Einrichtung der ihrigen vorziehen; sie werden selbst erkennen,
daß wir mehr Freiheit genießen; aber nur Beschränktheit kann behaupten,
daß unser Parlamentarismus in Deutschland zum Ziele geführt hätte. Eine
sich kräftig und neu entwickelnde Nation hat ganz andere Bedürfnisse als eine
alte, fertige, wie wir, oder die Engländer.

Der Skepticismus der Holländer, ihr Mangel an Idealen beim Ein¬
zelnen sowohl als bei der Nation, hat sie zur Bemitleidung jener Persönlich¬
keiten gebracht, die im Streben nach höhern Zielen zu edler Aufopferung
schreiten, weil sie sich dazu berufen fühlen. Prof. Tellegen z. B. nennt solche
Leute Fanatiker. Muß nicht ein Volk, das alle Ideale principiell von sich
abweist, nicht verdorren? Oder sollen wir unser Stillleben als ein solches
betrachten?

Man würde sich täuschen, wenn man die Aufopferungsfähigkeit unseres
Volkes in den Begebenheiten dieses Sommers suchen wollte, z. B. in dem
pünktlichen Erscheinen der bei der Mobilifirung unserer Armee einberufenen
Mannschaften. Die Leute erschienen bereitwillig, wenn auch nicht gerne, aber
bezeichnend war die Ironie, mit welcher über die militären Maßregeln der
Regierung gesprochen wurde. Es stellte sich denn auch nur zu bald heraus,
daß für den Kriegszustand überall Alles mangelhaft organisirt war. Wären


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/120>, abgerufen am 23.07.2024.