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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band.

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anders als ungestraft zu verlassen vermocht hat. Es war Mozart noch be-
schieden, die neue Form, die sich bei Hciydn kaum über eine äußerliche, naive
Klarheit erhebt, wenn auch selten durch einen tiefen, so doch meist durch
einen schönen und reinen Gehalt zu beseelen. Hier trat Beethoven ein, und
indem er sich mit energischer Einseitigkeit der instrumentalen Kunst allein
zuwandte, hat er auch diese zur Vollendung geführt.

Die Sonatenform Haydn's erfüllt er mit staunenswerthen Leben, alles
trocken Schematische, was ihr bet jenem noch anhaftet, wird unter seiner Hand
flüssig, Melodie und Rhythmus werden entfesselt, doch bleibt er immer Herr
ihrer Bewegung; über der Mannichfaltigkeit der einander antwortenden und
fast widerstreitenden Motive vergißt er nie, sie in eine höhere, immer durch¬
scheinende Einheit zusammenzufassen. Wenn bei Haydn und selbst bet Mo¬
zart die Harmonie weit hinter die Melodie zurücktritt, so stehen beide bei
Beethoven in vollkommenem Gleichgewicht. Er erreicht dies bei den Clavier-
sonaten durch eine Vielstimmigkeit der Accorde, der gegenüber die Klänge in
den Werken seiner Vorgänger dünn und schwächlich erscheinen, ohne daß er
doch, wie mancher spätere, ein gesundes Maß der Fülle durch rauschenden
Lärm überschritte. Der Technik des Clavierspiels hat er die Freiheit ver¬
liehen, die wir jetzt gar nicht mehr davon hinwegzudenken vermögen, aber zu
dissoluter Willkür oder eitlen Kunststücken hat er sich nie hinreißen lassen:
für Effectspieler, ja auch eigentlich für Virtuosen hat er nie eine Note ge¬
schrieben. Einzig der musikalischen Idee, die ihm jedesmal vorschwebt, sucht
er den wahrsten, wärmsten und höchsten Ausdruck zu geben, ideenloser Aus¬
druck -- das bedeutet doch eben Effect -- ist ihm ein Unding. Auch im
Streichquartett, aber hier natürlich am mindesten, weil Zahl, Art und Um¬
fang der Stimmen einmal feststeht, ist er wenigstens in der Richtung der
Vertiefung über die früheren Meister hinausgegangen, die strenge Einfachheit
ihrer Formen stattet er auch hier mit blühenderem Leben, mit eindringlicherer
Gewalt aus. Der wahre Schauplatz seiner Thaten aber ist die Tonwelt des
gesammten Orchesters. Ich rede hier nicht von den Concerten, wo es mehr
einheitlich wirkend dem Flügel etwa wie ein zweiter nur mit den buntesten
Klangfarben ausgestatteter Flügel kämpfend gegenübertritt, ich rede von der
Kunstform, die man einfach für alle Zukunft auf seinen Namen taufen könnte,
von den Symphonieen. Man hat gut staunen über des fleißigen Haydn's
118 Symphonieen; und wären ihrer noch hundert mehr, sie wogen den neun
Beethoven'schen nicht entfernt gleich; es gibt auch einen intensiven Fleiß,
vor dem der extensive als eine leichte Vielthuerei erscheint. Hier hat er jene
Individualisirung der einzelnen Instrumente vollzogen, deren wir im Ein¬
gange gedachten; sie treiben ihr Wesen scheinbar jedes um sein selbstwillen
und bewegen sich doch alle um die eine Grundidee. Rechnet man die großen


anders als ungestraft zu verlassen vermocht hat. Es war Mozart noch be-
schieden, die neue Form, die sich bei Hciydn kaum über eine äußerliche, naive
Klarheit erhebt, wenn auch selten durch einen tiefen, so doch meist durch
einen schönen und reinen Gehalt zu beseelen. Hier trat Beethoven ein, und
indem er sich mit energischer Einseitigkeit der instrumentalen Kunst allein
zuwandte, hat er auch diese zur Vollendung geführt.

Die Sonatenform Haydn's erfüllt er mit staunenswerthen Leben, alles
trocken Schematische, was ihr bet jenem noch anhaftet, wird unter seiner Hand
flüssig, Melodie und Rhythmus werden entfesselt, doch bleibt er immer Herr
ihrer Bewegung; über der Mannichfaltigkeit der einander antwortenden und
fast widerstreitenden Motive vergißt er nie, sie in eine höhere, immer durch¬
scheinende Einheit zusammenzufassen. Wenn bei Haydn und selbst bet Mo¬
zart die Harmonie weit hinter die Melodie zurücktritt, so stehen beide bei
Beethoven in vollkommenem Gleichgewicht. Er erreicht dies bei den Clavier-
sonaten durch eine Vielstimmigkeit der Accorde, der gegenüber die Klänge in
den Werken seiner Vorgänger dünn und schwächlich erscheinen, ohne daß er
doch, wie mancher spätere, ein gesundes Maß der Fülle durch rauschenden
Lärm überschritte. Der Technik des Clavierspiels hat er die Freiheit ver¬
liehen, die wir jetzt gar nicht mehr davon hinwegzudenken vermögen, aber zu
dissoluter Willkür oder eitlen Kunststücken hat er sich nie hinreißen lassen:
für Effectspieler, ja auch eigentlich für Virtuosen hat er nie eine Note ge¬
schrieben. Einzig der musikalischen Idee, die ihm jedesmal vorschwebt, sucht
er den wahrsten, wärmsten und höchsten Ausdruck zu geben, ideenloser Aus¬
druck — das bedeutet doch eben Effect — ist ihm ein Unding. Auch im
Streichquartett, aber hier natürlich am mindesten, weil Zahl, Art und Um¬
fang der Stimmen einmal feststeht, ist er wenigstens in der Richtung der
Vertiefung über die früheren Meister hinausgegangen, die strenge Einfachheit
ihrer Formen stattet er auch hier mit blühenderem Leben, mit eindringlicherer
Gewalt aus. Der wahre Schauplatz seiner Thaten aber ist die Tonwelt des
gesammten Orchesters. Ich rede hier nicht von den Concerten, wo es mehr
einheitlich wirkend dem Flügel etwa wie ein zweiter nur mit den buntesten
Klangfarben ausgestatteter Flügel kämpfend gegenübertritt, ich rede von der
Kunstform, die man einfach für alle Zukunft auf seinen Namen taufen könnte,
von den Symphonieen. Man hat gut staunen über des fleißigen Haydn's
118 Symphonieen; und wären ihrer noch hundert mehr, sie wogen den neun
Beethoven'schen nicht entfernt gleich; es gibt auch einen intensiven Fleiß,
vor dem der extensive als eine leichte Vielthuerei erscheint. Hier hat er jene
Individualisirung der einzelnen Instrumente vollzogen, deren wir im Ein¬
gange gedachten; sie treiben ihr Wesen scheinbar jedes um sein selbstwillen
und bewegen sich doch alle um die eine Grundidee. Rechnet man die großen


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[0453] anders als ungestraft zu verlassen vermocht hat. Es war Mozart noch be- schieden, die neue Form, die sich bei Hciydn kaum über eine äußerliche, naive Klarheit erhebt, wenn auch selten durch einen tiefen, so doch meist durch einen schönen und reinen Gehalt zu beseelen. Hier trat Beethoven ein, und indem er sich mit energischer Einseitigkeit der instrumentalen Kunst allein zuwandte, hat er auch diese zur Vollendung geführt. Die Sonatenform Haydn's erfüllt er mit staunenswerthen Leben, alles trocken Schematische, was ihr bet jenem noch anhaftet, wird unter seiner Hand flüssig, Melodie und Rhythmus werden entfesselt, doch bleibt er immer Herr ihrer Bewegung; über der Mannichfaltigkeit der einander antwortenden und fast widerstreitenden Motive vergißt er nie, sie in eine höhere, immer durch¬ scheinende Einheit zusammenzufassen. Wenn bei Haydn und selbst bet Mo¬ zart die Harmonie weit hinter die Melodie zurücktritt, so stehen beide bei Beethoven in vollkommenem Gleichgewicht. Er erreicht dies bei den Clavier- sonaten durch eine Vielstimmigkeit der Accorde, der gegenüber die Klänge in den Werken seiner Vorgänger dünn und schwächlich erscheinen, ohne daß er doch, wie mancher spätere, ein gesundes Maß der Fülle durch rauschenden Lärm überschritte. Der Technik des Clavierspiels hat er die Freiheit ver¬ liehen, die wir jetzt gar nicht mehr davon hinwegzudenken vermögen, aber zu dissoluter Willkür oder eitlen Kunststücken hat er sich nie hinreißen lassen: für Effectspieler, ja auch eigentlich für Virtuosen hat er nie eine Note ge¬ schrieben. Einzig der musikalischen Idee, die ihm jedesmal vorschwebt, sucht er den wahrsten, wärmsten und höchsten Ausdruck zu geben, ideenloser Aus¬ druck — das bedeutet doch eben Effect — ist ihm ein Unding. Auch im Streichquartett, aber hier natürlich am mindesten, weil Zahl, Art und Um¬ fang der Stimmen einmal feststeht, ist er wenigstens in der Richtung der Vertiefung über die früheren Meister hinausgegangen, die strenge Einfachheit ihrer Formen stattet er auch hier mit blühenderem Leben, mit eindringlicherer Gewalt aus. Der wahre Schauplatz seiner Thaten aber ist die Tonwelt des gesammten Orchesters. Ich rede hier nicht von den Concerten, wo es mehr einheitlich wirkend dem Flügel etwa wie ein zweiter nur mit den buntesten Klangfarben ausgestatteter Flügel kämpfend gegenübertritt, ich rede von der Kunstform, die man einfach für alle Zukunft auf seinen Namen taufen könnte, von den Symphonieen. Man hat gut staunen über des fleißigen Haydn's 118 Symphonieen; und wären ihrer noch hundert mehr, sie wogen den neun Beethoven'schen nicht entfernt gleich; es gibt auch einen intensiven Fleiß, vor dem der extensive als eine leichte Vielthuerei erscheint. Hier hat er jene Individualisirung der einzelnen Instrumente vollzogen, deren wir im Ein¬ gange gedachten; sie treiben ihr Wesen scheinbar jedes um sein selbstwillen und bewegen sich doch alle um die eine Grundidee. Rechnet man die großen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124705/453>, abgerufen am 22.12.2024.