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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band.

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Gegensätze hinzu, in denen die einzelnen Hauptsätze des ganzen Kunstwerkes
und wiederum deren Unterabtheilungen zu einander stehen, so muß man auch
dieser Kunst den großen Ehrennamen einer dramatischen unbedingt zuerkennen.
Es ist eine Beherrschung der von einander abstechenden und doch auf ein¬
ander bezogenen vielen Elemente durch die erhabenste Einheit, wie sie nur
die höchsten Gattungen aller Kunst aufweisen und dabei zugleich in den
Strom einer so mächtigen Bewegung getaucht, wie sie eben der Musik allein
eigen ist. Selbst die komische Seite fehlt diesen Tondramen nicht ganz;
durch die Umbildung des Menuetts zum Scherzo wußte Beethoven auch diese
in seinem Wesen spärlich, aber höchst eigenthümlich vertretene Seite zum
Ausdrucke zu bringen.

Beethoven ist überhaupt der ursprünglichste Geist unter allen Tondich¬
tern. Händel. Gluck, Haydn, Mozart, sie alle erkennt man sogleich an ge¬
wissen, sei es harmonischen, sei es melodischen Wendungen wieder, die man
an ihnen von jeher lieb gewonnen; ein unbekanntes Werk Beethoven's er¬
kennt man einzig, aber auch sicher daran, daß so etwas kein anderer gemacht
haben könnte; ja er ist so originell, daß man selbst bei denen selner Werke,
die man längst fast auswendig kennt, doch das Gefühl der Ueberraschung
niemals überwindet, der edlen Ueberraschung, mein' ich, die uns zur Bewun¬
derung zwingt, nicht der modern beliebten, die auf Verwunderung abzielt.
Man hat im Laufe seiner Klangreihen die erwartungsvolle Empfindung, als
sei ihm noch jeder Ausweg möglich, und doch vertraut man fest, daß er auch
auf den wunderbarsten Wegen alles herrlich hinausführen werde. Von den
anderen darf man ihm nur Bach darin vergleichen; sie sind einander eben¬
bürtig an Reichthum und Erhabenheit, an Ernst und Tiefe, aber sie stehen
gegen einander wie Gesetz und Freiheit, wie Andacht und Begeisterung, wie
Kirchenthum und modernes Leben. Denn in Beethoven hat endlich die
Kunst die letzte Spur des Geistlichen abgethan, seine Messe hat nicht mehr
specifisch Religiöses in sich, als etwa das Glaubensbekenntniß Faust's. Und
zudem steht sie, wie auch die anderen Vocalwerke des Meisters, im Wider¬
sprüche mit den ewigen Naturgesetzen der schönen Menschenstimme. Hier ist es
denn an der Zeit, auch der verhängnißvollen Mängel des einzigen Mannes
zu gedenken.

Wie wir ihn zu charakterisiren versuchten, ist er nicht immer gleicher¬
maßen gewesen. Man hat es leugnen wollen, aber es bleibt bestehen, daß
sich drei Perioden des Schaffens bei ihm unterscheiden, wenn auch nicht wirk-
lich scheiden lassen. In der ersten, nur kurzen schmiegt sein von Anfang an
ursprünglicher Geist sich noch bescheiden in die Form Haydn's und Mozart's;
in der zweiten braucht er seine ganze Macht im vollsten Einklange mit den
Gesetzen der Schönheit, die er zum guten Theil selber gegeben; in der dritten


Gegensätze hinzu, in denen die einzelnen Hauptsätze des ganzen Kunstwerkes
und wiederum deren Unterabtheilungen zu einander stehen, so muß man auch
dieser Kunst den großen Ehrennamen einer dramatischen unbedingt zuerkennen.
Es ist eine Beherrschung der von einander abstechenden und doch auf ein¬
ander bezogenen vielen Elemente durch die erhabenste Einheit, wie sie nur
die höchsten Gattungen aller Kunst aufweisen und dabei zugleich in den
Strom einer so mächtigen Bewegung getaucht, wie sie eben der Musik allein
eigen ist. Selbst die komische Seite fehlt diesen Tondramen nicht ganz;
durch die Umbildung des Menuetts zum Scherzo wußte Beethoven auch diese
in seinem Wesen spärlich, aber höchst eigenthümlich vertretene Seite zum
Ausdrucke zu bringen.

Beethoven ist überhaupt der ursprünglichste Geist unter allen Tondich¬
tern. Händel. Gluck, Haydn, Mozart, sie alle erkennt man sogleich an ge¬
wissen, sei es harmonischen, sei es melodischen Wendungen wieder, die man
an ihnen von jeher lieb gewonnen; ein unbekanntes Werk Beethoven's er¬
kennt man einzig, aber auch sicher daran, daß so etwas kein anderer gemacht
haben könnte; ja er ist so originell, daß man selbst bei denen selner Werke,
die man längst fast auswendig kennt, doch das Gefühl der Ueberraschung
niemals überwindet, der edlen Ueberraschung, mein' ich, die uns zur Bewun¬
derung zwingt, nicht der modern beliebten, die auf Verwunderung abzielt.
Man hat im Laufe seiner Klangreihen die erwartungsvolle Empfindung, als
sei ihm noch jeder Ausweg möglich, und doch vertraut man fest, daß er auch
auf den wunderbarsten Wegen alles herrlich hinausführen werde. Von den
anderen darf man ihm nur Bach darin vergleichen; sie sind einander eben¬
bürtig an Reichthum und Erhabenheit, an Ernst und Tiefe, aber sie stehen
gegen einander wie Gesetz und Freiheit, wie Andacht und Begeisterung, wie
Kirchenthum und modernes Leben. Denn in Beethoven hat endlich die
Kunst die letzte Spur des Geistlichen abgethan, seine Messe hat nicht mehr
specifisch Religiöses in sich, als etwa das Glaubensbekenntniß Faust's. Und
zudem steht sie, wie auch die anderen Vocalwerke des Meisters, im Wider¬
sprüche mit den ewigen Naturgesetzen der schönen Menschenstimme. Hier ist es
denn an der Zeit, auch der verhängnißvollen Mängel des einzigen Mannes
zu gedenken.

Wie wir ihn zu charakterisiren versuchten, ist er nicht immer gleicher¬
maßen gewesen. Man hat es leugnen wollen, aber es bleibt bestehen, daß
sich drei Perioden des Schaffens bei ihm unterscheiden, wenn auch nicht wirk-
lich scheiden lassen. In der ersten, nur kurzen schmiegt sein von Anfang an
ursprünglicher Geist sich noch bescheiden in die Form Haydn's und Mozart's;
in der zweiten braucht er seine ganze Macht im vollsten Einklange mit den
Gesetzen der Schönheit, die er zum guten Theil selber gegeben; in der dritten


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[0454] Gegensätze hinzu, in denen die einzelnen Hauptsätze des ganzen Kunstwerkes und wiederum deren Unterabtheilungen zu einander stehen, so muß man auch dieser Kunst den großen Ehrennamen einer dramatischen unbedingt zuerkennen. Es ist eine Beherrschung der von einander abstechenden und doch auf ein¬ ander bezogenen vielen Elemente durch die erhabenste Einheit, wie sie nur die höchsten Gattungen aller Kunst aufweisen und dabei zugleich in den Strom einer so mächtigen Bewegung getaucht, wie sie eben der Musik allein eigen ist. Selbst die komische Seite fehlt diesen Tondramen nicht ganz; durch die Umbildung des Menuetts zum Scherzo wußte Beethoven auch diese in seinem Wesen spärlich, aber höchst eigenthümlich vertretene Seite zum Ausdrucke zu bringen. Beethoven ist überhaupt der ursprünglichste Geist unter allen Tondich¬ tern. Händel. Gluck, Haydn, Mozart, sie alle erkennt man sogleich an ge¬ wissen, sei es harmonischen, sei es melodischen Wendungen wieder, die man an ihnen von jeher lieb gewonnen; ein unbekanntes Werk Beethoven's er¬ kennt man einzig, aber auch sicher daran, daß so etwas kein anderer gemacht haben könnte; ja er ist so originell, daß man selbst bei denen selner Werke, die man längst fast auswendig kennt, doch das Gefühl der Ueberraschung niemals überwindet, der edlen Ueberraschung, mein' ich, die uns zur Bewun¬ derung zwingt, nicht der modern beliebten, die auf Verwunderung abzielt. Man hat im Laufe seiner Klangreihen die erwartungsvolle Empfindung, als sei ihm noch jeder Ausweg möglich, und doch vertraut man fest, daß er auch auf den wunderbarsten Wegen alles herrlich hinausführen werde. Von den anderen darf man ihm nur Bach darin vergleichen; sie sind einander eben¬ bürtig an Reichthum und Erhabenheit, an Ernst und Tiefe, aber sie stehen gegen einander wie Gesetz und Freiheit, wie Andacht und Begeisterung, wie Kirchenthum und modernes Leben. Denn in Beethoven hat endlich die Kunst die letzte Spur des Geistlichen abgethan, seine Messe hat nicht mehr specifisch Religiöses in sich, als etwa das Glaubensbekenntniß Faust's. Und zudem steht sie, wie auch die anderen Vocalwerke des Meisters, im Wider¬ sprüche mit den ewigen Naturgesetzen der schönen Menschenstimme. Hier ist es denn an der Zeit, auch der verhängnißvollen Mängel des einzigen Mannes zu gedenken. Wie wir ihn zu charakterisiren versuchten, ist er nicht immer gleicher¬ maßen gewesen. Man hat es leugnen wollen, aber es bleibt bestehen, daß sich drei Perioden des Schaffens bei ihm unterscheiden, wenn auch nicht wirk- lich scheiden lassen. In der ersten, nur kurzen schmiegt sein von Anfang an ursprünglicher Geist sich noch bescheiden in die Form Haydn's und Mozart's; in der zweiten braucht er seine ganze Macht im vollsten Einklange mit den Gesetzen der Schönheit, die er zum guten Theil selber gegeben; in der dritten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124705/454>, abgerufen am 22.12.2024.