Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band.halt ward seines tiefreligiösen Charakters gar bald mehr und mehr ent¬ halt ward seines tiefreligiösen Charakters gar bald mehr und mehr ent¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0452" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/125158"/> <p xml:id="ID_1350" prev="#ID_1349" next="#ID_1351"> halt ward seines tiefreligiösen Charakters gar bald mehr und mehr ent¬<lb/> kleidet. Denn inzwischen drang der große Aufklärungsproceß, wie wir ihn<lb/> ohne Tadel nennen dürfen, das Humanitätsstreben des 18. Jahrhunderts,<lb/> auch in den geweihten Bezirk der Musik ein; schon Händel, der erste und<lb/> letzte Meister des Oratoriums, behandelt seine heiligen Stoffe nur noch histo¬<lb/> risch-dramatisch, und alle heilige Geschichte verwandelt sich, sobald man nur<lb/> den Accent auf den Begriff der Geschichte verschiebt, unaufhaltsam in mensch¬<lb/> liche Geschichte. Und da war zugleich die Zeit erschienen, daß auch die Kunst¬<lb/> weisen anderer Nationen, die bisher bei uns eine nur äußerliche Herrschaft<lb/> geübt hatten, auf unsere deutschen Meister einen wirklich fruchtbaren Einfluß<lb/> gewannen. Sie entnahmen daraus nur, was daran wahrhaft zu brauchen<lb/> war, das charakteristische Moment aus der französischen Musik und die leichte<lb/> Anmuth des melodischen Spiels aus der italienischen. Jenes ist die That<lb/> Gluck's, der zugleich die dramatische Kunst aus dem religiösen Bereiche durch<lb/> das Medium des Heroischen, die würdigste, immer noch übermenschliche Ge¬<lb/> stalt des Weltlichen, dem rein Humaner zuführte. Den Höhepunkt dieser Ent¬<lb/> wicklung der dramatischen Vocalmusik erreichte dann Mozart, die am meisten<lb/> musikalische Natur unter allen Musikern. Durch die Vermählung tragischer<lb/> und komischer Elemente, die unauflösliche Verschmelzung deutscher Innigkeit<lb/> mit italienischer Grazie und französisch-theatralischer Bedeutsamkeit hat er<lb/> eine universelle, internationale Stellung; alle Völker, sollte man meinen,<lb/> müßten an der reinen Schönheit dieses Meisters das gleiche Wohlgefallen<lb/> finden. Da schien kein Platz mehr übrig für eine neue noch höhere Größe,<lb/> wie Beethoven, wäre nicht inzwischen noch eine andere Gattung der Musik<lb/> ihrer Vollendung entgegengeführt worden, in der sich diese Kunst erst zu<lb/> vollster Selbständigkeit entfalten sollte. Wir können hier nicht näher ver¬<lb/> folgen, wie schon Bach der Instrumentalmusik kunstvolle Geschmeidigkeit, wie<lb/> Händel ihr Glanz, Gluck Ausdruck verlieh; bei ihnen allen verhält sie sich<lb/> doch nur entweder nachahmend oder dienend zum Gesänge; eine eigene Be¬<lb/> deutung hat ihr erst Haydn gegeben. Mitunter wirken auch äußerlich tech¬<lb/> nische Dinge unberechenbar auf die Entwicklung der Künste ein; wie die<lb/> Verwendung dieses oder jenes Gesteins für Baukunst und Plastik, wie die<lb/> Erfindung der Oelmalerei für die dritte bildende Kunst, so ward die moderne<lb/> Construction des Claviers und die mannichfache Composition des Orchesters<lb/> von umwälzender Bedeutung für die Instrumentalmusik. Die reichere Aus¬<lb/> stattung des Orchesters ist zum Theil Haydn's bewußtes Werk, das neue<lb/> Clavier wußte er sich wenigstens sogleich dienstbar zu machen. Mit dem<lb/> feinen Sinn eines sauber ordnenden Geistes zeichnete er in der Form der<lb/> Sonate, die im Streichquartett und in der Symphonie nur erweitert wieder¬<lb/> kehrt, die Wege bestimmt vor, welche die Instrumentalmusik bisher nicht</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0452]
halt ward seines tiefreligiösen Charakters gar bald mehr und mehr ent¬
kleidet. Denn inzwischen drang der große Aufklärungsproceß, wie wir ihn
ohne Tadel nennen dürfen, das Humanitätsstreben des 18. Jahrhunderts,
auch in den geweihten Bezirk der Musik ein; schon Händel, der erste und
letzte Meister des Oratoriums, behandelt seine heiligen Stoffe nur noch histo¬
risch-dramatisch, und alle heilige Geschichte verwandelt sich, sobald man nur
den Accent auf den Begriff der Geschichte verschiebt, unaufhaltsam in mensch¬
liche Geschichte. Und da war zugleich die Zeit erschienen, daß auch die Kunst¬
weisen anderer Nationen, die bisher bei uns eine nur äußerliche Herrschaft
geübt hatten, auf unsere deutschen Meister einen wirklich fruchtbaren Einfluß
gewannen. Sie entnahmen daraus nur, was daran wahrhaft zu brauchen
war, das charakteristische Moment aus der französischen Musik und die leichte
Anmuth des melodischen Spiels aus der italienischen. Jenes ist die That
Gluck's, der zugleich die dramatische Kunst aus dem religiösen Bereiche durch
das Medium des Heroischen, die würdigste, immer noch übermenschliche Ge¬
stalt des Weltlichen, dem rein Humaner zuführte. Den Höhepunkt dieser Ent¬
wicklung der dramatischen Vocalmusik erreichte dann Mozart, die am meisten
musikalische Natur unter allen Musikern. Durch die Vermählung tragischer
und komischer Elemente, die unauflösliche Verschmelzung deutscher Innigkeit
mit italienischer Grazie und französisch-theatralischer Bedeutsamkeit hat er
eine universelle, internationale Stellung; alle Völker, sollte man meinen,
müßten an der reinen Schönheit dieses Meisters das gleiche Wohlgefallen
finden. Da schien kein Platz mehr übrig für eine neue noch höhere Größe,
wie Beethoven, wäre nicht inzwischen noch eine andere Gattung der Musik
ihrer Vollendung entgegengeführt worden, in der sich diese Kunst erst zu
vollster Selbständigkeit entfalten sollte. Wir können hier nicht näher ver¬
folgen, wie schon Bach der Instrumentalmusik kunstvolle Geschmeidigkeit, wie
Händel ihr Glanz, Gluck Ausdruck verlieh; bei ihnen allen verhält sie sich
doch nur entweder nachahmend oder dienend zum Gesänge; eine eigene Be¬
deutung hat ihr erst Haydn gegeben. Mitunter wirken auch äußerlich tech¬
nische Dinge unberechenbar auf die Entwicklung der Künste ein; wie die
Verwendung dieses oder jenes Gesteins für Baukunst und Plastik, wie die
Erfindung der Oelmalerei für die dritte bildende Kunst, so ward die moderne
Construction des Claviers und die mannichfache Composition des Orchesters
von umwälzender Bedeutung für die Instrumentalmusik. Die reichere Aus¬
stattung des Orchesters ist zum Theil Haydn's bewußtes Werk, das neue
Clavier wußte er sich wenigstens sogleich dienstbar zu machen. Mit dem
feinen Sinn eines sauber ordnenden Geistes zeichnete er in der Form der
Sonate, die im Streichquartett und in der Symphonie nur erweitert wieder¬
kehrt, die Wege bestimmt vor, welche die Instrumentalmusik bisher nicht
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