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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band.

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Gebildeten mündlich zu belehren und der größeren Menge aus den Erträgen durch
Volksbibliotheken dauernde Cultur zuzuführen. Beides gelang in erfreulicher Weise
und fand weithin über Deutschland eifrige Nachfolge. Allmählich griff man auch
mit dem eindringlicheren Mittel mündlicher Belehrung aus die tieferen Schichten des
Volkes, Handwerker und Arbeiter hinab. Für deren Bildungsvereine gerade wollten
die beiden volksfreundlichen Berliner Gelehrten in ihrer Sammlung einen festen
Fonds gediegener Vorträge gründen und durch bereitwillige Beihilfe älterer und
jüngerer Gelehrter von beiden Seiten unserer Cultur, der natur- und der geistes¬
wissenschaftlichen, haben sie ihre Absicht erreicht. Uns liegt nun gegen Ende des 5ten
Sammeljahres wieder ein Dutzend Hefte vor, schon bis Nro. 113 reichend, von
mannigfachem Inhalt; es werden darin besprochen: die Arbeitsvorräthe der Natur
und ihre Benutzung, Aristoteles und seine Lehre vom Staat, der Laacher See und
seine vulkanischen Umgebungen, die nationale Staatenbildung und der moderne
deutsche Staat, Aufgaben und Leistungen der modernen Thierzucht, Lord Palmerston,
die Darstellung des Stahls und Schmiedeeisens, die Beziehungen der Gewerbezeichen¬
schulen zur Kunstindustrie und zur Volsbildung, das Leben in den größten Meeres¬
tiefen, die geologische Bildung der norddeutschen Ebene, moderne und antike Heizungs¬
und Ventilationsmethoden, die Alchemie und die Alchemisten. Unter den Verfassern
stehen zwischen geringeren die Namen Nöggerath, Bluntschli, Roth. Man kann
darüber ungefähr sagen, was Humboldt über den wissenschaftlichen Verein schrieb:
"Der Wechsel der Organe und Personen hat allerdings etwas sehr Unterhaltendes
und Pikantes. Es ist wie eine Musterung der Talente, der rednerischen und Sach¬
talente, welche eine Stadt (hier die Nation) besitzt." Dennoch gab er -- für den
mündlichen Vortrag gewiß mit Recht -- Cyclen von zusammenhängenden Vor¬
lesungen den Vorzug. Hier jedoch ist durch den Druck sür den Leser die Gefahr
des flüchtigen Vorüberrauschens vermieden, während an die Vorlesungen der Texte in
den Vereinen sich leicht Fragen und weitere Bescheide anknüpfen lassen. Alsdann gilt wieder
Humboldt's schönes Wort: "Mit dem Wissen kommt das Denken und mit dem Denken
der Ernst und die Kraft in die Menge." Auf den Inhalt der einzelnen Hefte ein¬
zugehen, ist hier nicht möglich, doch will ich die Bemerkung nicht unterdrücken, daß
in der ganzen Sammlung die naturwissenschaftliche Hälfte im allgemeinen der an¬
deren überlegen ist. Ich denke, der Grund ist einfach: der Naturforscher ist ge¬
wohnt, seinen Gegenstand momentan zu isoliren, der Mann der historischen Wissen¬
schaft unterbricht nur ungern die Continuität seiner Gedanken, einen Stundenaus¬
schnitt aus seinem Wissen zu machen fällt ihm schwer. Als Muster einer zugleich
erschöpfenden und fest umgrenzten Darstellung heben wir besonders I. Roth's Auf¬
satz über die geologische Bildung der norddeutschen Ebene hervor. Bei dem Namen
Geologie denkt so mancher ausschließlich an die Gebirgswelt mit den gewaltigen
Erscheinungen ihrer anstehenden Gesteine, und doch hat gerade die Erforschung der
jüngsten irdenen Gebilde, des Diluviums und selbst des Alluviums, ihr? große Be-


Gebildeten mündlich zu belehren und der größeren Menge aus den Erträgen durch
Volksbibliotheken dauernde Cultur zuzuführen. Beides gelang in erfreulicher Weise
und fand weithin über Deutschland eifrige Nachfolge. Allmählich griff man auch
mit dem eindringlicheren Mittel mündlicher Belehrung aus die tieferen Schichten des
Volkes, Handwerker und Arbeiter hinab. Für deren Bildungsvereine gerade wollten
die beiden volksfreundlichen Berliner Gelehrten in ihrer Sammlung einen festen
Fonds gediegener Vorträge gründen und durch bereitwillige Beihilfe älterer und
jüngerer Gelehrter von beiden Seiten unserer Cultur, der natur- und der geistes¬
wissenschaftlichen, haben sie ihre Absicht erreicht. Uns liegt nun gegen Ende des 5ten
Sammeljahres wieder ein Dutzend Hefte vor, schon bis Nro. 113 reichend, von
mannigfachem Inhalt; es werden darin besprochen: die Arbeitsvorräthe der Natur
und ihre Benutzung, Aristoteles und seine Lehre vom Staat, der Laacher See und
seine vulkanischen Umgebungen, die nationale Staatenbildung und der moderne
deutsche Staat, Aufgaben und Leistungen der modernen Thierzucht, Lord Palmerston,
die Darstellung des Stahls und Schmiedeeisens, die Beziehungen der Gewerbezeichen¬
schulen zur Kunstindustrie und zur Volsbildung, das Leben in den größten Meeres¬
tiefen, die geologische Bildung der norddeutschen Ebene, moderne und antike Heizungs¬
und Ventilationsmethoden, die Alchemie und die Alchemisten. Unter den Verfassern
stehen zwischen geringeren die Namen Nöggerath, Bluntschli, Roth. Man kann
darüber ungefähr sagen, was Humboldt über den wissenschaftlichen Verein schrieb:
„Der Wechsel der Organe und Personen hat allerdings etwas sehr Unterhaltendes
und Pikantes. Es ist wie eine Musterung der Talente, der rednerischen und Sach¬
talente, welche eine Stadt (hier die Nation) besitzt." Dennoch gab er — für den
mündlichen Vortrag gewiß mit Recht — Cyclen von zusammenhängenden Vor¬
lesungen den Vorzug. Hier jedoch ist durch den Druck sür den Leser die Gefahr
des flüchtigen Vorüberrauschens vermieden, während an die Vorlesungen der Texte in
den Vereinen sich leicht Fragen und weitere Bescheide anknüpfen lassen. Alsdann gilt wieder
Humboldt's schönes Wort: „Mit dem Wissen kommt das Denken und mit dem Denken
der Ernst und die Kraft in die Menge." Auf den Inhalt der einzelnen Hefte ein¬
zugehen, ist hier nicht möglich, doch will ich die Bemerkung nicht unterdrücken, daß
in der ganzen Sammlung die naturwissenschaftliche Hälfte im allgemeinen der an¬
deren überlegen ist. Ich denke, der Grund ist einfach: der Naturforscher ist ge¬
wohnt, seinen Gegenstand momentan zu isoliren, der Mann der historischen Wissen¬
schaft unterbricht nur ungern die Continuität seiner Gedanken, einen Stundenaus¬
schnitt aus seinem Wissen zu machen fällt ihm schwer. Als Muster einer zugleich
erschöpfenden und fest umgrenzten Darstellung heben wir besonders I. Roth's Auf¬
satz über die geologische Bildung der norddeutschen Ebene hervor. Bei dem Namen
Geologie denkt so mancher ausschließlich an die Gebirgswelt mit den gewaltigen
Erscheinungen ihrer anstehenden Gesteine, und doch hat gerade die Erforschung der
jüngsten irdenen Gebilde, des Diluviums und selbst des Alluviums, ihr? große Be-


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[0447] Gebildeten mündlich zu belehren und der größeren Menge aus den Erträgen durch Volksbibliotheken dauernde Cultur zuzuführen. Beides gelang in erfreulicher Weise und fand weithin über Deutschland eifrige Nachfolge. Allmählich griff man auch mit dem eindringlicheren Mittel mündlicher Belehrung aus die tieferen Schichten des Volkes, Handwerker und Arbeiter hinab. Für deren Bildungsvereine gerade wollten die beiden volksfreundlichen Berliner Gelehrten in ihrer Sammlung einen festen Fonds gediegener Vorträge gründen und durch bereitwillige Beihilfe älterer und jüngerer Gelehrter von beiden Seiten unserer Cultur, der natur- und der geistes¬ wissenschaftlichen, haben sie ihre Absicht erreicht. Uns liegt nun gegen Ende des 5ten Sammeljahres wieder ein Dutzend Hefte vor, schon bis Nro. 113 reichend, von mannigfachem Inhalt; es werden darin besprochen: die Arbeitsvorräthe der Natur und ihre Benutzung, Aristoteles und seine Lehre vom Staat, der Laacher See und seine vulkanischen Umgebungen, die nationale Staatenbildung und der moderne deutsche Staat, Aufgaben und Leistungen der modernen Thierzucht, Lord Palmerston, die Darstellung des Stahls und Schmiedeeisens, die Beziehungen der Gewerbezeichen¬ schulen zur Kunstindustrie und zur Volsbildung, das Leben in den größten Meeres¬ tiefen, die geologische Bildung der norddeutschen Ebene, moderne und antike Heizungs¬ und Ventilationsmethoden, die Alchemie und die Alchemisten. Unter den Verfassern stehen zwischen geringeren die Namen Nöggerath, Bluntschli, Roth. Man kann darüber ungefähr sagen, was Humboldt über den wissenschaftlichen Verein schrieb: „Der Wechsel der Organe und Personen hat allerdings etwas sehr Unterhaltendes und Pikantes. Es ist wie eine Musterung der Talente, der rednerischen und Sach¬ talente, welche eine Stadt (hier die Nation) besitzt." Dennoch gab er — für den mündlichen Vortrag gewiß mit Recht — Cyclen von zusammenhängenden Vor¬ lesungen den Vorzug. Hier jedoch ist durch den Druck sür den Leser die Gefahr des flüchtigen Vorüberrauschens vermieden, während an die Vorlesungen der Texte in den Vereinen sich leicht Fragen und weitere Bescheide anknüpfen lassen. Alsdann gilt wieder Humboldt's schönes Wort: „Mit dem Wissen kommt das Denken und mit dem Denken der Ernst und die Kraft in die Menge." Auf den Inhalt der einzelnen Hefte ein¬ zugehen, ist hier nicht möglich, doch will ich die Bemerkung nicht unterdrücken, daß in der ganzen Sammlung die naturwissenschaftliche Hälfte im allgemeinen der an¬ deren überlegen ist. Ich denke, der Grund ist einfach: der Naturforscher ist ge¬ wohnt, seinen Gegenstand momentan zu isoliren, der Mann der historischen Wissen¬ schaft unterbricht nur ungern die Continuität seiner Gedanken, einen Stundenaus¬ schnitt aus seinem Wissen zu machen fällt ihm schwer. Als Muster einer zugleich erschöpfenden und fest umgrenzten Darstellung heben wir besonders I. Roth's Auf¬ satz über die geologische Bildung der norddeutschen Ebene hervor. Bei dem Namen Geologie denkt so mancher ausschließlich an die Gebirgswelt mit den gewaltigen Erscheinungen ihrer anstehenden Gesteine, und doch hat gerade die Erforschung der jüngsten irdenen Gebilde, des Diluviums und selbst des Alluviums, ihr? große Be-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124705/447>, abgerufen am 22.12.2024.