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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band.

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deutung. Aus der Beobachtung der jüngstvergangenen und noch andauernden Boden-
wandlungea ist der Hauptgedanke der neuesten Geologie ausgegangen, der des sehr
allmählichen Verlaufs der Erdumwälzungen überhaupt. Nur ganz unwissenschaft¬
lichen Köpfen ist durch die Aufnahme des Begriffs der objectiven langen Weile die
Geologie auch subjectiv langweilig geworden.

Ich kann die norddeutsche Tiefebene, aus der zweimal im Laufe der Geschichte
unserer zerfallenden Nation rettende Einigung erwachsen ist, nicht verlassen, ohne
Julius Schumann's geologischer Wanderungen durch Altpreußen zu gedenken, eines
Buches, das die empfindlichste Lücke in der Kenntniß des großen Deluvialbeckens
ausfüllt. Noch 18S8, in der 2. Auflage seines vortrefflichen Werkes über Deutsch¬
lands Boden, gesteht Cotta seine völlige Unbekanntschaft mit dem Lande jenseit
der Weichsel ein, "wo die Lithauer ihre kleinen Pferde züchten, die Masuren in
Erdhöhlen leben, die "Krähensresser" den sonderbaren schmalen Damm (die "Neh¬
rung") bewohnen, welcher das Kmische Haff von der Ostsee scheidet" u. s. w. Diese
interessanten Gegenden hat nun Schumann auf einsamen Wanderungen in den
Jahren 1857--65 mit feinem Sinne beobachtet; seine in Provinzialblättern zer¬
streuten Aufsätze find sodann nach seinem Tode von seinen Freunden gesammelt
herausgegeben worden. Eine Lebensskizze des merkwürdigen Mannes, eines tüch¬
tigen Königsberger Gymnasiallehrers, geht voraus; sie zeigt uns einen echten Ostpreußen,
gerade, offen, von der Härte des doch so gefühlvollen Charakters, die noch heut jene
Colonistensöhne auszeichnet, zu eigenthümlich, um ein gewöhnlicher Mensch, zu ver¬
nünftig', um ein Sonderling zu heißen. Seine Wanderungen gelten nicht blos der
Erforschung des Bodens, auch für das Pflanzen- und Thierleben darauf bis in
seine Ärmsten Gestalten hat er Auge und Herz; die Brüteplätze und die Sitten
jener Cormorans, deren Cotta erwähnt, beschreibt er anschaulich. Am sorgfältigsten
hat er die Natur der beiden Nehrungen und der verwandten Halbinsel Hela studirt;
über das schreckliche, fast märchenhafte Fortwandern der Dünen ü^ ' Dörfer und
Pflanzungen hinweg gibt er die klarsten Aufschlüsse; tief unter dem Sande, der
heut wüst auf jenen Landzungen lagert, verfolgt er die Spuren eines historischen
und darunter wieder die eines uralten, vorgeschichtlichen Laubwaldes. Ueber Hebung
und Senkung der Küsten, über Bernsteingräbereien und Lachsfang, über Nacht und
Morgen im Lithauer Walde wie über die schönen, keineswegs so öden Ufer des mcisu-
rischen Spirdingsees, über alles das weiß Schumann ebenso belehrend wie unter¬
haltend zu sprechen. Es sind "Ansichten der Natur" von musterhafter Deutlichkeit;
sie ernähren uns, über dem neuerworbenen, reichen Südwesten nicht dieses deutschen
Nordostvorlandes zu vergessen, das so oft für uns gelitten und gehandelt hat und
dessen Name immerhin aufgehen, aber nicht untergehen darf in dem des großen
a/D. Vaterlandes.




Verantwortlicher Redacteur: Alfred Dove.
Verlag von F. L. Herbig. - Druck von Hüthel Legler in Leipzig.

deutung. Aus der Beobachtung der jüngstvergangenen und noch andauernden Boden-
wandlungea ist der Hauptgedanke der neuesten Geologie ausgegangen, der des sehr
allmählichen Verlaufs der Erdumwälzungen überhaupt. Nur ganz unwissenschaft¬
lichen Köpfen ist durch die Aufnahme des Begriffs der objectiven langen Weile die
Geologie auch subjectiv langweilig geworden.

Ich kann die norddeutsche Tiefebene, aus der zweimal im Laufe der Geschichte
unserer zerfallenden Nation rettende Einigung erwachsen ist, nicht verlassen, ohne
Julius Schumann's geologischer Wanderungen durch Altpreußen zu gedenken, eines
Buches, das die empfindlichste Lücke in der Kenntniß des großen Deluvialbeckens
ausfüllt. Noch 18S8, in der 2. Auflage seines vortrefflichen Werkes über Deutsch¬
lands Boden, gesteht Cotta seine völlige Unbekanntschaft mit dem Lande jenseit
der Weichsel ein, „wo die Lithauer ihre kleinen Pferde züchten, die Masuren in
Erdhöhlen leben, die „Krähensresser" den sonderbaren schmalen Damm (die „Neh¬
rung") bewohnen, welcher das Kmische Haff von der Ostsee scheidet" u. s. w. Diese
interessanten Gegenden hat nun Schumann auf einsamen Wanderungen in den
Jahren 1857—65 mit feinem Sinne beobachtet; seine in Provinzialblättern zer¬
streuten Aufsätze find sodann nach seinem Tode von seinen Freunden gesammelt
herausgegeben worden. Eine Lebensskizze des merkwürdigen Mannes, eines tüch¬
tigen Königsberger Gymnasiallehrers, geht voraus; sie zeigt uns einen echten Ostpreußen,
gerade, offen, von der Härte des doch so gefühlvollen Charakters, die noch heut jene
Colonistensöhne auszeichnet, zu eigenthümlich, um ein gewöhnlicher Mensch, zu ver¬
nünftig', um ein Sonderling zu heißen. Seine Wanderungen gelten nicht blos der
Erforschung des Bodens, auch für das Pflanzen- und Thierleben darauf bis in
seine Ärmsten Gestalten hat er Auge und Herz; die Brüteplätze und die Sitten
jener Cormorans, deren Cotta erwähnt, beschreibt er anschaulich. Am sorgfältigsten
hat er die Natur der beiden Nehrungen und der verwandten Halbinsel Hela studirt;
über das schreckliche, fast märchenhafte Fortwandern der Dünen ü^ ' Dörfer und
Pflanzungen hinweg gibt er die klarsten Aufschlüsse; tief unter dem Sande, der
heut wüst auf jenen Landzungen lagert, verfolgt er die Spuren eines historischen
und darunter wieder die eines uralten, vorgeschichtlichen Laubwaldes. Ueber Hebung
und Senkung der Küsten, über Bernsteingräbereien und Lachsfang, über Nacht und
Morgen im Lithauer Walde wie über die schönen, keineswegs so öden Ufer des mcisu-
rischen Spirdingsees, über alles das weiß Schumann ebenso belehrend wie unter¬
haltend zu sprechen. Es sind „Ansichten der Natur" von musterhafter Deutlichkeit;
sie ernähren uns, über dem neuerworbenen, reichen Südwesten nicht dieses deutschen
Nordostvorlandes zu vergessen, das so oft für uns gelitten und gehandelt hat und
dessen Name immerhin aufgehen, aber nicht untergehen darf in dem des großen
a/D. Vaterlandes.




Verantwortlicher Redacteur: Alfred Dove.
Verlag von F. L. Herbig. - Druck von Hüthel Legler in Leipzig.
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[0448] deutung. Aus der Beobachtung der jüngstvergangenen und noch andauernden Boden- wandlungea ist der Hauptgedanke der neuesten Geologie ausgegangen, der des sehr allmählichen Verlaufs der Erdumwälzungen überhaupt. Nur ganz unwissenschaft¬ lichen Köpfen ist durch die Aufnahme des Begriffs der objectiven langen Weile die Geologie auch subjectiv langweilig geworden. Ich kann die norddeutsche Tiefebene, aus der zweimal im Laufe der Geschichte unserer zerfallenden Nation rettende Einigung erwachsen ist, nicht verlassen, ohne Julius Schumann's geologischer Wanderungen durch Altpreußen zu gedenken, eines Buches, das die empfindlichste Lücke in der Kenntniß des großen Deluvialbeckens ausfüllt. Noch 18S8, in der 2. Auflage seines vortrefflichen Werkes über Deutsch¬ lands Boden, gesteht Cotta seine völlige Unbekanntschaft mit dem Lande jenseit der Weichsel ein, „wo die Lithauer ihre kleinen Pferde züchten, die Masuren in Erdhöhlen leben, die „Krähensresser" den sonderbaren schmalen Damm (die „Neh¬ rung") bewohnen, welcher das Kmische Haff von der Ostsee scheidet" u. s. w. Diese interessanten Gegenden hat nun Schumann auf einsamen Wanderungen in den Jahren 1857—65 mit feinem Sinne beobachtet; seine in Provinzialblättern zer¬ streuten Aufsätze find sodann nach seinem Tode von seinen Freunden gesammelt herausgegeben worden. Eine Lebensskizze des merkwürdigen Mannes, eines tüch¬ tigen Königsberger Gymnasiallehrers, geht voraus; sie zeigt uns einen echten Ostpreußen, gerade, offen, von der Härte des doch so gefühlvollen Charakters, die noch heut jene Colonistensöhne auszeichnet, zu eigenthümlich, um ein gewöhnlicher Mensch, zu ver¬ nünftig', um ein Sonderling zu heißen. Seine Wanderungen gelten nicht blos der Erforschung des Bodens, auch für das Pflanzen- und Thierleben darauf bis in seine Ärmsten Gestalten hat er Auge und Herz; die Brüteplätze und die Sitten jener Cormorans, deren Cotta erwähnt, beschreibt er anschaulich. Am sorgfältigsten hat er die Natur der beiden Nehrungen und der verwandten Halbinsel Hela studirt; über das schreckliche, fast märchenhafte Fortwandern der Dünen ü^ ' Dörfer und Pflanzungen hinweg gibt er die klarsten Aufschlüsse; tief unter dem Sande, der heut wüst auf jenen Landzungen lagert, verfolgt er die Spuren eines historischen und darunter wieder die eines uralten, vorgeschichtlichen Laubwaldes. Ueber Hebung und Senkung der Küsten, über Bernsteingräbereien und Lachsfang, über Nacht und Morgen im Lithauer Walde wie über die schönen, keineswegs so öden Ufer des mcisu- rischen Spirdingsees, über alles das weiß Schumann ebenso belehrend wie unter¬ haltend zu sprechen. Es sind „Ansichten der Natur" von musterhafter Deutlichkeit; sie ernähren uns, über dem neuerworbenen, reichen Südwesten nicht dieses deutschen Nordostvorlandes zu vergessen, das so oft für uns gelitten und gehandelt hat und dessen Name immerhin aufgehen, aber nicht untergehen darf in dem des großen a/D. Vaterlandes. Verantwortlicher Redacteur: Alfred Dove. Verlag von F. L. Herbig. - Druck von Hüthel Legler in Leipzig.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124705/448>, abgerufen am 22.12.2024.