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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band.

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schichte dieser beiden Theorien in ihrem Hauptvertretern von Platon bis Lassalle, so
wie der wirklichen communistischen Erscheinungen im Gesellschaftsleben verschiedener
Zeiten und Völker, sondern auch eine Beleuchtung der Proletarierzustände von den
Tagen antiker Sclaverei bis auf unsere heutigen Arbeiter herab. Wie sollte der
hellsehende Mann einen Fortschritt zum Besseren verkennen? Aber, daß noch unendlich
viel zu thun sei, muß der Mildherzige trauernd einräumen, nicht ohne Bangen blickt
er "in eine sturmerfüllte Zukunft". Jedermann muß das von Herzen nachempfin¬
den, der den Verfasser auf seiner nächtlichen Wanderung durch East" und Westend
begleitet. Die >vatersiAe-oliaraoters und andere Gestalten, deren Bekanntschaft wir
bei Boz mit grausigen Behagen gemacht, werden hier in den "Nachtseiten von Lon¬
don" vom grellen Fackellicht der Wirklichkeit furchtbar beleuchtet, ein Abscheu und
Ekel, aber doch noch unendlich mehr Jammer und Mitleid erregender Anblick.
Manches, wie das Gildeleben der Spitzbuben, ist aus älteren Schilderungen allge¬
mein bekannt, anderes, wie die LodginghLuser, die Pennytheater und die scheußlichen
Gaunerkneipen, aus eigener Anschauung frisch geschildert. Man erstaunt dabei aufs
neue über den typischen Charakter, den alle Lebensformen und so auch die grä߬
lichen in dieser wunderbaren Nation annehmen, woraus denn die großen humoristi¬
schen Beobachter solches Lebens für ihre berühmten Romane die beneidenswerthe
Festigkeit der Figurenzeiehnung gewonnen haben.

Ein lustiger gefärbter Bild entrollt vor uns der letzte Aufsatz, "deutsches Stu-
dentenleben", obwohl es eigentlich nicht minder unästhetisch ist. Nur daß hier die
widrige Roheit nicht Folge des Elends, sondern wüster Geschmacklosigkeit ist. An
Corporationsgeist und Organisation der Frechheit geben die deutschen Studenten
vom 15ten bis 18ten Jahrhundert den Londoner Dieben nichts nach. Der Ver¬
sasser schließt seine unterhaltende Darstellung mit dem kurzen Lichtblick der Grün¬
dung der deutschen Burschenschaft. Unbillig ist er gegen den Protestantismus, wenn
er bisweilen die stärkere Verbreitung einzelner Thorheiten des Studentenlebens auf
protestantischen Universitäten hervorhebt, die katholischen waren eben überhaupt und
also auch in ihren Schattenseiten doch gar unbedeutend geworden. -- Wir scheiden
von dem Buche mit Befriedigung und möchten es, obwohl es dazu nicht bestimmt
ist, aufs Fest empfehlen, Auch die Tugend hat der Verfasser vor vielen Essayisten
voraus, seine Quellenliteratur dem Wißbegierigen ehrlich zu nennen. --

Eine andere Art gemischter Geistesnahrung bietet die längst rühmlich bekannte
Virchow-Holtzendorsssche Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vorträge
dar, auf die wir gleichwohl immer aufs neue gern hinweisen. Man darf wohl
dankbar daran erinnern, daß A. v. Humboldt der erste war. der unter uns -- denn
die Reden Fichte's hatten einen rein ethischen Zweck -- ernste wissenschaftliche Vor¬
trage vor ein sehr gemischtes Publicum ("König und Maurermeister") gebracht hat.
Der zweite Ehrenpreis gebührt Fr. v. Raumer, der 1842 nach amerikanischem Vor¬
gange den wissenschaftlichen Verein zu Berlin gründete, mit dem Doppelzwecke, die


schichte dieser beiden Theorien in ihrem Hauptvertretern von Platon bis Lassalle, so
wie der wirklichen communistischen Erscheinungen im Gesellschaftsleben verschiedener
Zeiten und Völker, sondern auch eine Beleuchtung der Proletarierzustände von den
Tagen antiker Sclaverei bis auf unsere heutigen Arbeiter herab. Wie sollte der
hellsehende Mann einen Fortschritt zum Besseren verkennen? Aber, daß noch unendlich
viel zu thun sei, muß der Mildherzige trauernd einräumen, nicht ohne Bangen blickt
er „in eine sturmerfüllte Zukunft". Jedermann muß das von Herzen nachempfin¬
den, der den Verfasser auf seiner nächtlichen Wanderung durch East« und Westend
begleitet. Die >vatersiAe-oliaraoters und andere Gestalten, deren Bekanntschaft wir
bei Boz mit grausigen Behagen gemacht, werden hier in den „Nachtseiten von Lon¬
don" vom grellen Fackellicht der Wirklichkeit furchtbar beleuchtet, ein Abscheu und
Ekel, aber doch noch unendlich mehr Jammer und Mitleid erregender Anblick.
Manches, wie das Gildeleben der Spitzbuben, ist aus älteren Schilderungen allge¬
mein bekannt, anderes, wie die LodginghLuser, die Pennytheater und die scheußlichen
Gaunerkneipen, aus eigener Anschauung frisch geschildert. Man erstaunt dabei aufs
neue über den typischen Charakter, den alle Lebensformen und so auch die grä߬
lichen in dieser wunderbaren Nation annehmen, woraus denn die großen humoristi¬
schen Beobachter solches Lebens für ihre berühmten Romane die beneidenswerthe
Festigkeit der Figurenzeiehnung gewonnen haben.

Ein lustiger gefärbter Bild entrollt vor uns der letzte Aufsatz, „deutsches Stu-
dentenleben", obwohl es eigentlich nicht minder unästhetisch ist. Nur daß hier die
widrige Roheit nicht Folge des Elends, sondern wüster Geschmacklosigkeit ist. An
Corporationsgeist und Organisation der Frechheit geben die deutschen Studenten
vom 15ten bis 18ten Jahrhundert den Londoner Dieben nichts nach. Der Ver¬
sasser schließt seine unterhaltende Darstellung mit dem kurzen Lichtblick der Grün¬
dung der deutschen Burschenschaft. Unbillig ist er gegen den Protestantismus, wenn
er bisweilen die stärkere Verbreitung einzelner Thorheiten des Studentenlebens auf
protestantischen Universitäten hervorhebt, die katholischen waren eben überhaupt und
also auch in ihren Schattenseiten doch gar unbedeutend geworden. — Wir scheiden
von dem Buche mit Befriedigung und möchten es, obwohl es dazu nicht bestimmt
ist, aufs Fest empfehlen, Auch die Tugend hat der Verfasser vor vielen Essayisten
voraus, seine Quellenliteratur dem Wißbegierigen ehrlich zu nennen. —

Eine andere Art gemischter Geistesnahrung bietet die längst rühmlich bekannte
Virchow-Holtzendorsssche Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vorträge
dar, auf die wir gleichwohl immer aufs neue gern hinweisen. Man darf wohl
dankbar daran erinnern, daß A. v. Humboldt der erste war. der unter uns — denn
die Reden Fichte's hatten einen rein ethischen Zweck — ernste wissenschaftliche Vor¬
trage vor ein sehr gemischtes Publicum („König und Maurermeister") gebracht hat.
Der zweite Ehrenpreis gebührt Fr. v. Raumer, der 1842 nach amerikanischem Vor¬
gange den wissenschaftlichen Verein zu Berlin gründete, mit dem Doppelzwecke, die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124705/446>, abgerufen am 22.12.2024.