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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band.

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Die Kunst, auf dem Höhepunkt ihrer geistigen Entwicklung, wie sie uns
namentlich durch Sculpturen vertreten ist, die mit Pheidias und Polyklet in
Beziehung stehen, knüpft in organischer Weise an die vorhergehenden Leistun¬
gen an. Alle Gestalten dieser Kunstentwicklung sind mit mächtig gehobenem
Brustkorb dargestellt, wie es in der Natur bei einem vorgerücktem Stadium
des Jnspirationsprocesses der Fall zu sein Pflegt; doch sind die Befangenheit
und Gezwungenheit, wie sie der vorhergehenden Entwicklung in größerem oder
geringerem Grade eigenthümlich gewesen waren, überwunden und die be¬
treffenden Erscheinungen mit vollendeter Freiheit, Schönheit und Harmonie
dargestellt. In dieser Weise sind die Parthenonsculpturen, die besseren Co-
pien des Doryphoros, des Diskobol aus attischer Schule in der sg,Ig, actis,
biZa und die Aphrodite von Melos behandelt. Einen prachtvollen Torso in
der (Gierig, laMaria des Vatikan können wir, wie wegen der ganzen gro߬
artigen Formengebung, so auch im besonderen wegen der entsprechenden Be¬
handlung des Brustkorbes unbedenklich derselben Kunstentwicklung zuschreiben.
Selbst im Relief ist dieses Gestaltenprincip festgehalten, wie die Figuren der
Metopen und des Frieses des Parthenon, der berühmte Reiter im Nuseo
(üniarÄmonti und die die Trennung des Orpheus von der Eurydike dar¬
stellenden Reliefs bezeugen; selbst unter dem Gewände treten die Umrisse der
gehobenen Flügel des Brustkorbes deutlich hervor. Diese Darstellungsweise
ist somit als ein unerläßliches Bildungsprincip der Kunst der höchsten Blüthe-
zeit zu betrachten. Sie trägt wesentlich dazu bei, den Gestalten dieser Kunst¬
entwicklung, trotzdem daß die Behandlung der Oberfläche von allem Streben nach
täuschender Naturwahrheit weit entfernt, vielmehr ideal ist im höchsten Sinne
des Wortes, jenen Charakter kräftiger Lebensfülle zu verleihen, der ihnen
einen einzigen Platz in der Kunstgeschichte sichert. Der Mund ist bei
allen diesen Sculpturen leicht geöffnet; vielfach namentlich, bei attischen
Typen, ist, wie es in der vorhergehenden Epoche der Fall zu sein pflegte,
die Unterlippe etwas vorgeschoben; weit entfernt von aller Starrheit jedoch
verleiht dieser Zug den Köpfen vielmehr einen eigenthümlich feinen Charakter,
wie bits u. a. auch bei den attischen Portraits jener Epoche, wie dem des
Perikles und dem muthmaßlichen des Alcibiades, hervortritt.

Von der älteren attischen und peloponnesischen Schule abwärts kennen wir
keine Gestalt in ruhiger Stellung, wo die Athmensthätigkeit in scharfer Weise
zum Ausdruck gebracht wäre. Betrachten wir Werke, wie die kritische Aphro¬
dite, den Sauroktonos, den Eros, den ausruhenden Satyr, welche sich auf
Praxiteles zurückführen lassen, so ist bei ihnen allen der Brustkorb nur sehr
unmerklich gehoben. Der Künstler hat die Athmensthätigkeit nicht in der
schärfsten Erscheinungsweise, sondern in einem Stadium festgehalten, in
welchem sie sich dem Auge weniger deutlich offenbart. Der Mund ist nach


Die Kunst, auf dem Höhepunkt ihrer geistigen Entwicklung, wie sie uns
namentlich durch Sculpturen vertreten ist, die mit Pheidias und Polyklet in
Beziehung stehen, knüpft in organischer Weise an die vorhergehenden Leistun¬
gen an. Alle Gestalten dieser Kunstentwicklung sind mit mächtig gehobenem
Brustkorb dargestellt, wie es in der Natur bei einem vorgerücktem Stadium
des Jnspirationsprocesses der Fall zu sein Pflegt; doch sind die Befangenheit
und Gezwungenheit, wie sie der vorhergehenden Entwicklung in größerem oder
geringerem Grade eigenthümlich gewesen waren, überwunden und die be¬
treffenden Erscheinungen mit vollendeter Freiheit, Schönheit und Harmonie
dargestellt. In dieser Weise sind die Parthenonsculpturen, die besseren Co-
pien des Doryphoros, des Diskobol aus attischer Schule in der sg,Ig, actis,
biZa und die Aphrodite von Melos behandelt. Einen prachtvollen Torso in
der (Gierig, laMaria des Vatikan können wir, wie wegen der ganzen gro߬
artigen Formengebung, so auch im besonderen wegen der entsprechenden Be¬
handlung des Brustkorbes unbedenklich derselben Kunstentwicklung zuschreiben.
Selbst im Relief ist dieses Gestaltenprincip festgehalten, wie die Figuren der
Metopen und des Frieses des Parthenon, der berühmte Reiter im Nuseo
(üniarÄmonti und die die Trennung des Orpheus von der Eurydike dar¬
stellenden Reliefs bezeugen; selbst unter dem Gewände treten die Umrisse der
gehobenen Flügel des Brustkorbes deutlich hervor. Diese Darstellungsweise
ist somit als ein unerläßliches Bildungsprincip der Kunst der höchsten Blüthe-
zeit zu betrachten. Sie trägt wesentlich dazu bei, den Gestalten dieser Kunst¬
entwicklung, trotzdem daß die Behandlung der Oberfläche von allem Streben nach
täuschender Naturwahrheit weit entfernt, vielmehr ideal ist im höchsten Sinne
des Wortes, jenen Charakter kräftiger Lebensfülle zu verleihen, der ihnen
einen einzigen Platz in der Kunstgeschichte sichert. Der Mund ist bei
allen diesen Sculpturen leicht geöffnet; vielfach namentlich, bei attischen
Typen, ist, wie es in der vorhergehenden Epoche der Fall zu sein pflegte,
die Unterlippe etwas vorgeschoben; weit entfernt von aller Starrheit jedoch
verleiht dieser Zug den Köpfen vielmehr einen eigenthümlich feinen Charakter,
wie bits u. a. auch bei den attischen Portraits jener Epoche, wie dem des
Perikles und dem muthmaßlichen des Alcibiades, hervortritt.

Von der älteren attischen und peloponnesischen Schule abwärts kennen wir
keine Gestalt in ruhiger Stellung, wo die Athmensthätigkeit in scharfer Weise
zum Ausdruck gebracht wäre. Betrachten wir Werke, wie die kritische Aphro¬
dite, den Sauroktonos, den Eros, den ausruhenden Satyr, welche sich auf
Praxiteles zurückführen lassen, so ist bei ihnen allen der Brustkorb nur sehr
unmerklich gehoben. Der Künstler hat die Athmensthätigkeit nicht in der
schärfsten Erscheinungsweise, sondern in einem Stadium festgehalten, in
welchem sie sich dem Auge weniger deutlich offenbart. Der Mund ist nach


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[0426] Die Kunst, auf dem Höhepunkt ihrer geistigen Entwicklung, wie sie uns namentlich durch Sculpturen vertreten ist, die mit Pheidias und Polyklet in Beziehung stehen, knüpft in organischer Weise an die vorhergehenden Leistun¬ gen an. Alle Gestalten dieser Kunstentwicklung sind mit mächtig gehobenem Brustkorb dargestellt, wie es in der Natur bei einem vorgerücktem Stadium des Jnspirationsprocesses der Fall zu sein Pflegt; doch sind die Befangenheit und Gezwungenheit, wie sie der vorhergehenden Entwicklung in größerem oder geringerem Grade eigenthümlich gewesen waren, überwunden und die be¬ treffenden Erscheinungen mit vollendeter Freiheit, Schönheit und Harmonie dargestellt. In dieser Weise sind die Parthenonsculpturen, die besseren Co- pien des Doryphoros, des Diskobol aus attischer Schule in der sg,Ig, actis, biZa und die Aphrodite von Melos behandelt. Einen prachtvollen Torso in der (Gierig, laMaria des Vatikan können wir, wie wegen der ganzen gro߬ artigen Formengebung, so auch im besonderen wegen der entsprechenden Be¬ handlung des Brustkorbes unbedenklich derselben Kunstentwicklung zuschreiben. Selbst im Relief ist dieses Gestaltenprincip festgehalten, wie die Figuren der Metopen und des Frieses des Parthenon, der berühmte Reiter im Nuseo (üniarÄmonti und die die Trennung des Orpheus von der Eurydike dar¬ stellenden Reliefs bezeugen; selbst unter dem Gewände treten die Umrisse der gehobenen Flügel des Brustkorbes deutlich hervor. Diese Darstellungsweise ist somit als ein unerläßliches Bildungsprincip der Kunst der höchsten Blüthe- zeit zu betrachten. Sie trägt wesentlich dazu bei, den Gestalten dieser Kunst¬ entwicklung, trotzdem daß die Behandlung der Oberfläche von allem Streben nach täuschender Naturwahrheit weit entfernt, vielmehr ideal ist im höchsten Sinne des Wortes, jenen Charakter kräftiger Lebensfülle zu verleihen, der ihnen einen einzigen Platz in der Kunstgeschichte sichert. Der Mund ist bei allen diesen Sculpturen leicht geöffnet; vielfach namentlich, bei attischen Typen, ist, wie es in der vorhergehenden Epoche der Fall zu sein pflegte, die Unterlippe etwas vorgeschoben; weit entfernt von aller Starrheit jedoch verleiht dieser Zug den Köpfen vielmehr einen eigenthümlich feinen Charakter, wie bits u. a. auch bei den attischen Portraits jener Epoche, wie dem des Perikles und dem muthmaßlichen des Alcibiades, hervortritt. Von der älteren attischen und peloponnesischen Schule abwärts kennen wir keine Gestalt in ruhiger Stellung, wo die Athmensthätigkeit in scharfer Weise zum Ausdruck gebracht wäre. Betrachten wir Werke, wie die kritische Aphro¬ dite, den Sauroktonos, den Eros, den ausruhenden Satyr, welche sich auf Praxiteles zurückführen lassen, so ist bei ihnen allen der Brustkorb nur sehr unmerklich gehoben. Der Künstler hat die Athmensthätigkeit nicht in der schärfsten Erscheinungsweise, sondern in einem Stadium festgehalten, in welchem sie sich dem Auge weniger deutlich offenbart. Der Mund ist nach

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124705/426>, abgerufen am 22.12.2024.