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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band.

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Gewandter als am Apoll von Tenea, wenn auch immerhin noch gebun¬
den, erscheint die BeHandlungsweise desselben Motivs an der Bronzestatue
eines Epheben im Palazzo Sciarra, die ich keinen Anstand nehme als ein
ächtes Werk archaischer griechischer Kunst zu betrachten. Sie zeigt uns auch
in einem anderen Motive einen Fortschritt, der Epoche macht in der nach
Freiheit strebenden Entwickelung der Kunst und in seinem Ursprünge viel¬
leicht mit der Absicht, die Thätigkeit des Athmens zu versinnlichen, eng zu¬
sammenhängt. Dieser Fortschritt betrifft die Darstellung des Mundes.
Während die ältesten Sculpturen denselben geschlossen mit aneinander ge¬
preßten Lippen wiedergeben, erscheint der Mund in Werken fortgeschrittener
Entwickelung, wie bei dem archaischen unter dem Namen des Peisistratos
bekannten Portrait in Villa Albani, auf der Aristionstele, in den Kämpfern
der aiginetischen Giebelgruppen, geöffnet. Es versteht sich von selbst und ist
allgemein anerkannt, daß dieses Motiv in der Absicht eingeführt wurde, die
starre Abgeschlossenheit der Gestalten aufzuheben und Bewegung in dieselben
zu bringen. Da es auch die Athmensthcitigkeit veranschaulicht und wir ge¬
sehen haben, daß die Künstler diese Thätigkeit in der Behandlung der Brust
auszudrücken bemüht waren, so ist es an und für sich wahrscheinlich, daß
dieser Gesichtspunkt auch bet der neu eingeführten Darstellung des Mundes
einer der maßgebenden war. Jedenfalls stimmt mit dieser Annahme der Ein¬
druck, den wir Angesichts der sogenannten Peisistratosbüste in Villa Albani
empfangen, welche uns die Behandlung des Motivs in einem sehr alten
Stadium darbietet. Hier entspricht die Charakteristik des geöffneten Mun¬
des, die beträchtlich vorgeschobene Unterlippe, die leicht gekräuselte Oberlippe,
vollständig der Erscheinung eines Menschen, der in intensivster Weise die
Luft in die Lungen einsaugt. Freilich ist das Material, vermöge dessen wir
die allmäligen Fortschritte der Behandlung dieses Motivs in archaischer
Epoche verfolgen können, ein sehr dürftiges und fehlt uns die Anschauung
von den primitivsten Stufen dieser Bildungsweise. Wir werden eine solche
primitive Bilduvgsweise bei allen Idolen, von denen uns die Schriftsteller
berichten, vorauszusetzen und daraus die merkwürdigen Beinamen zu erklären
haben, welche die späteren Griechen denselben beilegten. Wenn z. B. auf
Samos ein "gähnender" Dionysos, wenn anderweitig ein "gähnender" Apoll
verehrt wurde, so liegt es nahe, diese Bezeichnung aus der starren und ge-
bundenen Weise zu erklären, mit welcher die archaische Kunst an diesen Ido-
len den geöffneten Mund behandelt hatte. Der Eindruck, welcher dieser Be¬
zeichnung zu Grunde liegt, steht mit meiner Annahme, daß das Streben, die
Athmensthätigkeit zu veranschaulichen, bei der Bildung des in Rede stehen¬
den Motivs ein maßgebender Gesichtspunkt war, zum Mindesten nicht im
Widerspruch.


Grenzboten IV. 5Z

Gewandter als am Apoll von Tenea, wenn auch immerhin noch gebun¬
den, erscheint die BeHandlungsweise desselben Motivs an der Bronzestatue
eines Epheben im Palazzo Sciarra, die ich keinen Anstand nehme als ein
ächtes Werk archaischer griechischer Kunst zu betrachten. Sie zeigt uns auch
in einem anderen Motive einen Fortschritt, der Epoche macht in der nach
Freiheit strebenden Entwickelung der Kunst und in seinem Ursprünge viel¬
leicht mit der Absicht, die Thätigkeit des Athmens zu versinnlichen, eng zu¬
sammenhängt. Dieser Fortschritt betrifft die Darstellung des Mundes.
Während die ältesten Sculpturen denselben geschlossen mit aneinander ge¬
preßten Lippen wiedergeben, erscheint der Mund in Werken fortgeschrittener
Entwickelung, wie bei dem archaischen unter dem Namen des Peisistratos
bekannten Portrait in Villa Albani, auf der Aristionstele, in den Kämpfern
der aiginetischen Giebelgruppen, geöffnet. Es versteht sich von selbst und ist
allgemein anerkannt, daß dieses Motiv in der Absicht eingeführt wurde, die
starre Abgeschlossenheit der Gestalten aufzuheben und Bewegung in dieselben
zu bringen. Da es auch die Athmensthcitigkeit veranschaulicht und wir ge¬
sehen haben, daß die Künstler diese Thätigkeit in der Behandlung der Brust
auszudrücken bemüht waren, so ist es an und für sich wahrscheinlich, daß
dieser Gesichtspunkt auch bet der neu eingeführten Darstellung des Mundes
einer der maßgebenden war. Jedenfalls stimmt mit dieser Annahme der Ein¬
druck, den wir Angesichts der sogenannten Peisistratosbüste in Villa Albani
empfangen, welche uns die Behandlung des Motivs in einem sehr alten
Stadium darbietet. Hier entspricht die Charakteristik des geöffneten Mun¬
des, die beträchtlich vorgeschobene Unterlippe, die leicht gekräuselte Oberlippe,
vollständig der Erscheinung eines Menschen, der in intensivster Weise die
Luft in die Lungen einsaugt. Freilich ist das Material, vermöge dessen wir
die allmäligen Fortschritte der Behandlung dieses Motivs in archaischer
Epoche verfolgen können, ein sehr dürftiges und fehlt uns die Anschauung
von den primitivsten Stufen dieser Bildungsweise. Wir werden eine solche
primitive Bilduvgsweise bei allen Idolen, von denen uns die Schriftsteller
berichten, vorauszusetzen und daraus die merkwürdigen Beinamen zu erklären
haben, welche die späteren Griechen denselben beilegten. Wenn z. B. auf
Samos ein „gähnender" Dionysos, wenn anderweitig ein „gähnender" Apoll
verehrt wurde, so liegt es nahe, diese Bezeichnung aus der starren und ge-
bundenen Weise zu erklären, mit welcher die archaische Kunst an diesen Ido-
len den geöffneten Mund behandelt hatte. Der Eindruck, welcher dieser Be¬
zeichnung zu Grunde liegt, steht mit meiner Annahme, daß das Streben, die
Athmensthätigkeit zu veranschaulichen, bei der Bildung des in Rede stehen¬
den Motivs ein maßgebender Gesichtspunkt war, zum Mindesten nicht im
Widerspruch.


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[0425] Gewandter als am Apoll von Tenea, wenn auch immerhin noch gebun¬ den, erscheint die BeHandlungsweise desselben Motivs an der Bronzestatue eines Epheben im Palazzo Sciarra, die ich keinen Anstand nehme als ein ächtes Werk archaischer griechischer Kunst zu betrachten. Sie zeigt uns auch in einem anderen Motive einen Fortschritt, der Epoche macht in der nach Freiheit strebenden Entwickelung der Kunst und in seinem Ursprünge viel¬ leicht mit der Absicht, die Thätigkeit des Athmens zu versinnlichen, eng zu¬ sammenhängt. Dieser Fortschritt betrifft die Darstellung des Mundes. Während die ältesten Sculpturen denselben geschlossen mit aneinander ge¬ preßten Lippen wiedergeben, erscheint der Mund in Werken fortgeschrittener Entwickelung, wie bei dem archaischen unter dem Namen des Peisistratos bekannten Portrait in Villa Albani, auf der Aristionstele, in den Kämpfern der aiginetischen Giebelgruppen, geöffnet. Es versteht sich von selbst und ist allgemein anerkannt, daß dieses Motiv in der Absicht eingeführt wurde, die starre Abgeschlossenheit der Gestalten aufzuheben und Bewegung in dieselben zu bringen. Da es auch die Athmensthcitigkeit veranschaulicht und wir ge¬ sehen haben, daß die Künstler diese Thätigkeit in der Behandlung der Brust auszudrücken bemüht waren, so ist es an und für sich wahrscheinlich, daß dieser Gesichtspunkt auch bet der neu eingeführten Darstellung des Mundes einer der maßgebenden war. Jedenfalls stimmt mit dieser Annahme der Ein¬ druck, den wir Angesichts der sogenannten Peisistratosbüste in Villa Albani empfangen, welche uns die Behandlung des Motivs in einem sehr alten Stadium darbietet. Hier entspricht die Charakteristik des geöffneten Mun¬ des, die beträchtlich vorgeschobene Unterlippe, die leicht gekräuselte Oberlippe, vollständig der Erscheinung eines Menschen, der in intensivster Weise die Luft in die Lungen einsaugt. Freilich ist das Material, vermöge dessen wir die allmäligen Fortschritte der Behandlung dieses Motivs in archaischer Epoche verfolgen können, ein sehr dürftiges und fehlt uns die Anschauung von den primitivsten Stufen dieser Bildungsweise. Wir werden eine solche primitive Bilduvgsweise bei allen Idolen, von denen uns die Schriftsteller berichten, vorauszusetzen und daraus die merkwürdigen Beinamen zu erklären haben, welche die späteren Griechen denselben beilegten. Wenn z. B. auf Samos ein „gähnender" Dionysos, wenn anderweitig ein „gähnender" Apoll verehrt wurde, so liegt es nahe, diese Bezeichnung aus der starren und ge- bundenen Weise zu erklären, mit welcher die archaische Kunst an diesen Ido- len den geöffneten Mund behandelt hatte. Der Eindruck, welcher dieser Be¬ zeichnung zu Grunde liegt, steht mit meiner Annahme, daß das Streben, die Athmensthätigkeit zu veranschaulichen, bei der Bildung des in Rede stehen¬ den Motivs ein maßgebender Gesichtspunkt war, zum Mindesten nicht im Widerspruch. Grenzboten IV. 5Z

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124705/425>, abgerufen am 22.12.2024.