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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band.

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wie vor geöffnet; doch kommt das in der vorhergehenden Periode übliche
Motiv der vorgeschobenen Unterlippe nicht mehr vor.

Fragen wir nach den Gründen, welche diese Umgestaltung der bisher
üblichen Bildungsprincipien veranlaßten, so ergeben sie sich in organischer
Weise aus der Richtung, welche die Kunst im vierten Jahrhundert einschlug.
Einerseits begann sie im Gegensatze zu der bisher herrschenden großartigen
Idealität eine der Natur entsprechende BeHandlungsweise der Oberfläche an-
zustreben. Da sie auf dieser Seite des künstlerischen Schaffens der Natur
näher kam, mochte sie, absichtlich oder unwillkürlich, darauf verzichten, das
organische Leben in ausdrucksvoller Weise hervorzuheben. Andererseits würde
die zarte Anmuth oder das behagliche Sichgehenlassen, wie sie in der Regel
namentlich den Gestalten des Praxiteles eigenthümlich sind, mit dem Aus¬
drucke gewaltig pulsirenden Lebens im Widerspruche gestanden haben, und
so entsprach es daher dem Geiste der neuen Richtung, dieses Leben in einer
milderen Aeußerung zu veranschaulichen.

In der folgenden Entwicklung, welche durch Lysipp eingeleitet wird,
nimmt die Schärfe der Charakteristik des betreffenden Motivs um einen wei¬
teren Grad ab. Bei dem Apoxyomenos, dem vatikanischen Hermes und dem
Ares Ludovisi, welche letztere beiden Statuen deutlich die Eigenthümlichkeiten
eines Lysipp'schen Ateliertypus verrathen, ist die Hebung des Brustkorbes so
gut wie nicht angedeutet. Das Wesen solcher kräftiger Jünglingsgestalten
an und für sich lief einer scharfen Ausdrucksweise des sie durchdringenden
physischen Lebens keineswegs zuwider. Wenn die Kunst nichts desto weniger
auf diese Charakteristik verzichtete, so wird man dies in Zusammenhang bringen
müssen mit der naturalistischen Behandlung der Oberfläche, welche von der
Kunst seit der Alexanderepoche mit besonderer Energie entwickelt wurde. Die
Statuen, welche sich auf Lysipp oder seine Schule zurückführen lassen, geben
den Charakter der Haut, wie sie an dem menschlichen Körper bald schärfer
gespannt ist, bald lockerer aufliegt, wie sie unter Umständen, namentlich am
Halse, Falten bildet, und das Getriebe der Muskeln und Adern in natur¬
entsprechendster Weise wieder. Die Schulen der hellenistischen Epoche, wie
die pergamenische und die rhodische, arbeiteten in demselben Sinne weiter.
Wenn es somit an und für sich wahrscheinlich ist, daß zwischen dem fort¬
schreitenden Naturalismus in der Behandlung der Oberfläche und zwischen
der abnehmenden Charakteristik des dem Körper innewohnenden physischen
Lebens eine Wechselwirkung stattfand, so wird diese Annahme bestätigt durch
die Weise, in welcher die Kunst nach Alexander den Mund behandelt. Wir
haben gesehen, wie mit fortschreitender Befreiung von den Fesseln des archai¬
schen Stils das lebensvolle Motiv des geöffneten Mundes in der griechischen
Sculptur allgemein gebräuchlich wurde. Während der Blüthezeit des fünften


wie vor geöffnet; doch kommt das in der vorhergehenden Periode übliche
Motiv der vorgeschobenen Unterlippe nicht mehr vor.

Fragen wir nach den Gründen, welche diese Umgestaltung der bisher
üblichen Bildungsprincipien veranlaßten, so ergeben sie sich in organischer
Weise aus der Richtung, welche die Kunst im vierten Jahrhundert einschlug.
Einerseits begann sie im Gegensatze zu der bisher herrschenden großartigen
Idealität eine der Natur entsprechende BeHandlungsweise der Oberfläche an-
zustreben. Da sie auf dieser Seite des künstlerischen Schaffens der Natur
näher kam, mochte sie, absichtlich oder unwillkürlich, darauf verzichten, das
organische Leben in ausdrucksvoller Weise hervorzuheben. Andererseits würde
die zarte Anmuth oder das behagliche Sichgehenlassen, wie sie in der Regel
namentlich den Gestalten des Praxiteles eigenthümlich sind, mit dem Aus¬
drucke gewaltig pulsirenden Lebens im Widerspruche gestanden haben, und
so entsprach es daher dem Geiste der neuen Richtung, dieses Leben in einer
milderen Aeußerung zu veranschaulichen.

In der folgenden Entwicklung, welche durch Lysipp eingeleitet wird,
nimmt die Schärfe der Charakteristik des betreffenden Motivs um einen wei¬
teren Grad ab. Bei dem Apoxyomenos, dem vatikanischen Hermes und dem
Ares Ludovisi, welche letztere beiden Statuen deutlich die Eigenthümlichkeiten
eines Lysipp'schen Ateliertypus verrathen, ist die Hebung des Brustkorbes so
gut wie nicht angedeutet. Das Wesen solcher kräftiger Jünglingsgestalten
an und für sich lief einer scharfen Ausdrucksweise des sie durchdringenden
physischen Lebens keineswegs zuwider. Wenn die Kunst nichts desto weniger
auf diese Charakteristik verzichtete, so wird man dies in Zusammenhang bringen
müssen mit der naturalistischen Behandlung der Oberfläche, welche von der
Kunst seit der Alexanderepoche mit besonderer Energie entwickelt wurde. Die
Statuen, welche sich auf Lysipp oder seine Schule zurückführen lassen, geben
den Charakter der Haut, wie sie an dem menschlichen Körper bald schärfer
gespannt ist, bald lockerer aufliegt, wie sie unter Umständen, namentlich am
Halse, Falten bildet, und das Getriebe der Muskeln und Adern in natur¬
entsprechendster Weise wieder. Die Schulen der hellenistischen Epoche, wie
die pergamenische und die rhodische, arbeiteten in demselben Sinne weiter.
Wenn es somit an und für sich wahrscheinlich ist, daß zwischen dem fort¬
schreitenden Naturalismus in der Behandlung der Oberfläche und zwischen
der abnehmenden Charakteristik des dem Körper innewohnenden physischen
Lebens eine Wechselwirkung stattfand, so wird diese Annahme bestätigt durch
die Weise, in welcher die Kunst nach Alexander den Mund behandelt. Wir
haben gesehen, wie mit fortschreitender Befreiung von den Fesseln des archai¬
schen Stils das lebensvolle Motiv des geöffneten Mundes in der griechischen
Sculptur allgemein gebräuchlich wurde. Während der Blüthezeit des fünften


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124705/427>, abgerufen am 22.12.2024.