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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band.

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Erscheinungen liegt auf der Hand und kaum ist es nöthig, den Leser auf
Harleß' Handbuch der plastischen Anatomie zu verweisen, wo die Profil¬
umrisse des menschlichen Körpers in der Jnspirations- und der Exsvirations-
thätigkeit einander gegenübergestellt sind.

Wie verhält sich die bildende Kunst, die auf die Firirung eines bestimm¬
ten Moments angewiesen ist, gegenüber diesem Wechsel von Erscheinungen?
Es sei mir gestattet, hierüber einige Bemerkungen aus dem Bereiche der
griechischen Kunst mitzutheilen. Eine in jeder Hinsicht erschöpfende Betrach¬
tung würde die in diesen Blättern gesteckten Grenzen überschreiten und eine
genaue Untersuchung entweder antiker Originale oder wenigstens von Gyvs-
avgüssen verlangen, welche mir beide namentlich hinsichtlich der archaischen
Periode, die als Grundlage der späteren Entwickelung besonders wichtig ist,
nur in beschränktem Maße zugänglich waren. Ich begnüge mich daher,
in aller Kürze einige einschlagende Beobachtungen über Sculpturwerke mit¬
zutheilen, welche ich auf diesen Gesichtspunkt hin genügend untersuchen konnte,
und die, da sie verschiedenen Stadien der alten Kunst angehören, uns die
Entwickelungsgeschichte der Behandlung der betreffenden Motive wenigstens
in den allgemeinsten Zügen vergegenwärtigen. Selbstverständlich kommen
hierbei nur solche Gestalten in Betracht, bei denen die Weise der Charakte¬
ristik dem Ermessen der Künstler anheimgegeben war, also Gestalten in ruhi¬
ger Stellung und ohne stark entwickelte physische oder moralische Affecte.

Es ist bezeichnend sür den Geist der griechischen Kunst, daß sie bereits
auf sehr früher Stufe dieser lebendigen Thätigkeit des Organismus Rechnung
trägt. Und zwar ist es zunächst ein vorgerücktes Stadium der Inspiration,
welches sie in ihren Gestalten auszudrücken trachtet. Es tritt dies bereits
bei dem Apoll von Tenea hervor, einem der ältesten erhaltenen Werke griechi¬
scher Sculptur. Hier sind die Brustflügel mächtig gehoben und reichen be¬
trächtlich über den etwas eingezogenen Unterleib herüber. Mag das Nackte
in den Brustpartien, wo die betreffende Erscheinung zum Ausdruck kommt,
etwas trocken behandelt sein und hinter der vorzüglicheren Durchführung der
Extremitäten zurückstehen, mag auch die Darstellung der Erscheinung als sol¬
cher etwas Gezwungenes haben, so ist immerhin der Umstand, daß die griechi¬
sche Kunst bereits in einem so alten Entwickelungsstadium nicht nur darnach
trachtet, die Oberfläche in einer der Natur entsprechenden Weise wiederzugeben,
sondern sich der Thätigkeit des menschlichen Organismus bewußt und bestrebt
ist, dieselbe in dem Kunstwerke zu versinnlichen, von der größten Tragweite.
Da sich die betreffende Thätigkeit in einem vorgerückten Stadium des Jn-
svirationsvrocesses dem Auge am Deutlichsten offenbart, ist es ganz natur¬
gemäß, daß dieses Stadium von einer nach scharfem Ausdruck ringenden
Kunst zur Darstellung erwählt und in dem Kunstwerke festgehalten wurde.


Erscheinungen liegt auf der Hand und kaum ist es nöthig, den Leser auf
Harleß' Handbuch der plastischen Anatomie zu verweisen, wo die Profil¬
umrisse des menschlichen Körpers in der Jnspirations- und der Exsvirations-
thätigkeit einander gegenübergestellt sind.

Wie verhält sich die bildende Kunst, die auf die Firirung eines bestimm¬
ten Moments angewiesen ist, gegenüber diesem Wechsel von Erscheinungen?
Es sei mir gestattet, hierüber einige Bemerkungen aus dem Bereiche der
griechischen Kunst mitzutheilen. Eine in jeder Hinsicht erschöpfende Betrach¬
tung würde die in diesen Blättern gesteckten Grenzen überschreiten und eine
genaue Untersuchung entweder antiker Originale oder wenigstens von Gyvs-
avgüssen verlangen, welche mir beide namentlich hinsichtlich der archaischen
Periode, die als Grundlage der späteren Entwickelung besonders wichtig ist,
nur in beschränktem Maße zugänglich waren. Ich begnüge mich daher,
in aller Kürze einige einschlagende Beobachtungen über Sculpturwerke mit¬
zutheilen, welche ich auf diesen Gesichtspunkt hin genügend untersuchen konnte,
und die, da sie verschiedenen Stadien der alten Kunst angehören, uns die
Entwickelungsgeschichte der Behandlung der betreffenden Motive wenigstens
in den allgemeinsten Zügen vergegenwärtigen. Selbstverständlich kommen
hierbei nur solche Gestalten in Betracht, bei denen die Weise der Charakte¬
ristik dem Ermessen der Künstler anheimgegeben war, also Gestalten in ruhi¬
ger Stellung und ohne stark entwickelte physische oder moralische Affecte.

Es ist bezeichnend sür den Geist der griechischen Kunst, daß sie bereits
auf sehr früher Stufe dieser lebendigen Thätigkeit des Organismus Rechnung
trägt. Und zwar ist es zunächst ein vorgerücktes Stadium der Inspiration,
welches sie in ihren Gestalten auszudrücken trachtet. Es tritt dies bereits
bei dem Apoll von Tenea hervor, einem der ältesten erhaltenen Werke griechi¬
scher Sculptur. Hier sind die Brustflügel mächtig gehoben und reichen be¬
trächtlich über den etwas eingezogenen Unterleib herüber. Mag das Nackte
in den Brustpartien, wo die betreffende Erscheinung zum Ausdruck kommt,
etwas trocken behandelt sein und hinter der vorzüglicheren Durchführung der
Extremitäten zurückstehen, mag auch die Darstellung der Erscheinung als sol¬
cher etwas Gezwungenes haben, so ist immerhin der Umstand, daß die griechi¬
sche Kunst bereits in einem so alten Entwickelungsstadium nicht nur darnach
trachtet, die Oberfläche in einer der Natur entsprechenden Weise wiederzugeben,
sondern sich der Thätigkeit des menschlichen Organismus bewußt und bestrebt
ist, dieselbe in dem Kunstwerke zu versinnlichen, von der größten Tragweite.
Da sich die betreffende Thätigkeit in einem vorgerückten Stadium des Jn-
svirationsvrocesses dem Auge am Deutlichsten offenbart, ist es ganz natur¬
gemäß, daß dieses Stadium von einer nach scharfem Ausdruck ringenden
Kunst zur Darstellung erwählt und in dem Kunstwerke festgehalten wurde.


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[0424] Erscheinungen liegt auf der Hand und kaum ist es nöthig, den Leser auf Harleß' Handbuch der plastischen Anatomie zu verweisen, wo die Profil¬ umrisse des menschlichen Körpers in der Jnspirations- und der Exsvirations- thätigkeit einander gegenübergestellt sind. Wie verhält sich die bildende Kunst, die auf die Firirung eines bestimm¬ ten Moments angewiesen ist, gegenüber diesem Wechsel von Erscheinungen? Es sei mir gestattet, hierüber einige Bemerkungen aus dem Bereiche der griechischen Kunst mitzutheilen. Eine in jeder Hinsicht erschöpfende Betrach¬ tung würde die in diesen Blättern gesteckten Grenzen überschreiten und eine genaue Untersuchung entweder antiker Originale oder wenigstens von Gyvs- avgüssen verlangen, welche mir beide namentlich hinsichtlich der archaischen Periode, die als Grundlage der späteren Entwickelung besonders wichtig ist, nur in beschränktem Maße zugänglich waren. Ich begnüge mich daher, in aller Kürze einige einschlagende Beobachtungen über Sculpturwerke mit¬ zutheilen, welche ich auf diesen Gesichtspunkt hin genügend untersuchen konnte, und die, da sie verschiedenen Stadien der alten Kunst angehören, uns die Entwickelungsgeschichte der Behandlung der betreffenden Motive wenigstens in den allgemeinsten Zügen vergegenwärtigen. Selbstverständlich kommen hierbei nur solche Gestalten in Betracht, bei denen die Weise der Charakte¬ ristik dem Ermessen der Künstler anheimgegeben war, also Gestalten in ruhi¬ ger Stellung und ohne stark entwickelte physische oder moralische Affecte. Es ist bezeichnend sür den Geist der griechischen Kunst, daß sie bereits auf sehr früher Stufe dieser lebendigen Thätigkeit des Organismus Rechnung trägt. Und zwar ist es zunächst ein vorgerücktes Stadium der Inspiration, welches sie in ihren Gestalten auszudrücken trachtet. Es tritt dies bereits bei dem Apoll von Tenea hervor, einem der ältesten erhaltenen Werke griechi¬ scher Sculptur. Hier sind die Brustflügel mächtig gehoben und reichen be¬ trächtlich über den etwas eingezogenen Unterleib herüber. Mag das Nackte in den Brustpartien, wo die betreffende Erscheinung zum Ausdruck kommt, etwas trocken behandelt sein und hinter der vorzüglicheren Durchführung der Extremitäten zurückstehen, mag auch die Darstellung der Erscheinung als sol¬ cher etwas Gezwungenes haben, so ist immerhin der Umstand, daß die griechi¬ sche Kunst bereits in einem so alten Entwickelungsstadium nicht nur darnach trachtet, die Oberfläche in einer der Natur entsprechenden Weise wiederzugeben, sondern sich der Thätigkeit des menschlichen Organismus bewußt und bestrebt ist, dieselbe in dem Kunstwerke zu versinnlichen, von der größten Tragweite. Da sich die betreffende Thätigkeit in einem vorgerückten Stadium des Jn- svirationsvrocesses dem Auge am Deutlichsten offenbart, ist es ganz natur¬ gemäß, daß dieses Stadium von einer nach scharfem Ausdruck ringenden Kunst zur Darstellung erwählt und in dem Kunstwerke festgehalten wurde.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124705/424>, abgerufen am 22.12.2024.