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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band.

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schwarzen Meere auf die Dauer werde beschränken lassen, hieß so viel als
glauben, daß ein Mensch sich das Athmen der Luft werde beschränken lassen,
die sein Lebenselement bildet. Keinem denkenden Politiker konnte es zweifel¬
haft sein, daß dieser Artikel ein Provisorium sei, das nur so lange Bestand
haben werde, als die Garantiemächte die Macht haben würden, über ihn
zu wachen.

Diese Machtverhältnisse aber haben sich wesentlich verschoben. Würde
der Krimkrieg heute ausbrechen, es wäre so gut wie sicher, daß die West¬
mächte ihre Hunderttausende von Menschen und ihre Millionen an Geld
vergeblich opfern würden. Nußland verfügt jetzt über eine ungleich stärkere
und bessere Armee als damals, die es sich seit 11 Jahren durch eine voll¬
ständige und jetzt beinahe vollendete Umgestaltung in einer der preußischen
nahekommenden Weise geschaffen hat; es verfügt ferner über ein wenn auch
noch unvollkommenes Eisenbahnnetz, das sein weites Gebiet durchzieht. Dem
Wachsen der Ostmacht steht das Abnehmen der Westmächte gegenüber: Eng¬
land immer mehr in Krämerinteressen und seniler Lethargie verkommend,
Frankreich in seiner tiefsten Erniedrigung. Kann es uns wundern, wenn
das alte historische Gesetz sich von Neuem bewahrheitet, daß geschriebene Ver¬
träge nur so lange halten, als die Machtverhältnisse Bestand haben, deren
Ausdruck sie waren? Der Nechtstheoretiker mag dieses Gesetz bedauerlich, der
Geschichtsphilosoph mag es ersprießlich und fördersam finden, darauf kommt
nichts an, sondern auf die Thatsache, daß es gegolten hat, so lange es eine
Geschichte gibt, und ebenso lange gelten wird, gleichviel ob es sich um inter¬
nationale oder um innere Verfassungsfragen handelt. Das historische Recht
wird zum historischen Unrecht, sobald die Machtverhältnisse, zu deren recht¬
licher Fixirung es dienen sollte, das geschriebene Wort Lügen strafen. Wohl
dem im Niedergang begriffenen Theile, wenn er gutwillig zur Herstellung
eines den nunmehrigen Machtverhältnissen entsprechenden Rechtes mitzuwirken
bereit ist; andernfalls zwingt die Logik der historischen Entwickelung den
aufsteigenden Theil zum formellen Bruch des geschriebenen Rechtes, um dem
höheren Recht der thatsächlichen historischen Existenz Geltung zu verschaffen.

Die brüske Form der russischen Initiative ist es, welche fast mehr als
der Inhalt der Erklärung verletzt hat. Ohne aus eine Untersuchung darüber
einzugehen, ob ein formeller Rechtsbruch vorliegt oder nicht, kann man doch
soviel sagen, daß jeder Versuch Rußlands, ohne vorherige Schaffung eines
ks.it aeeomM auf dem Wege freier Vereinbarung zu der von ihm gewünsch¬
ten Abänderung des Pariser Friedens zu gelangen, von vornherein dem von
possumus der Garantiemächte gegenüber aussichtslos war. Giebt man dies
zu (was freilich jetzt post echon die Garantiemächte nicht thun werden), so
blieb Rußland gar keine Wahl, entweder die auferlegte Beschränkung weiter


schwarzen Meere auf die Dauer werde beschränken lassen, hieß so viel als
glauben, daß ein Mensch sich das Athmen der Luft werde beschränken lassen,
die sein Lebenselement bildet. Keinem denkenden Politiker konnte es zweifel¬
haft sein, daß dieser Artikel ein Provisorium sei, das nur so lange Bestand
haben werde, als die Garantiemächte die Macht haben würden, über ihn
zu wachen.

Diese Machtverhältnisse aber haben sich wesentlich verschoben. Würde
der Krimkrieg heute ausbrechen, es wäre so gut wie sicher, daß die West¬
mächte ihre Hunderttausende von Menschen und ihre Millionen an Geld
vergeblich opfern würden. Nußland verfügt jetzt über eine ungleich stärkere
und bessere Armee als damals, die es sich seit 11 Jahren durch eine voll¬
ständige und jetzt beinahe vollendete Umgestaltung in einer der preußischen
nahekommenden Weise geschaffen hat; es verfügt ferner über ein wenn auch
noch unvollkommenes Eisenbahnnetz, das sein weites Gebiet durchzieht. Dem
Wachsen der Ostmacht steht das Abnehmen der Westmächte gegenüber: Eng¬
land immer mehr in Krämerinteressen und seniler Lethargie verkommend,
Frankreich in seiner tiefsten Erniedrigung. Kann es uns wundern, wenn
das alte historische Gesetz sich von Neuem bewahrheitet, daß geschriebene Ver¬
träge nur so lange halten, als die Machtverhältnisse Bestand haben, deren
Ausdruck sie waren? Der Nechtstheoretiker mag dieses Gesetz bedauerlich, der
Geschichtsphilosoph mag es ersprießlich und fördersam finden, darauf kommt
nichts an, sondern auf die Thatsache, daß es gegolten hat, so lange es eine
Geschichte gibt, und ebenso lange gelten wird, gleichviel ob es sich um inter¬
nationale oder um innere Verfassungsfragen handelt. Das historische Recht
wird zum historischen Unrecht, sobald die Machtverhältnisse, zu deren recht¬
licher Fixirung es dienen sollte, das geschriebene Wort Lügen strafen. Wohl
dem im Niedergang begriffenen Theile, wenn er gutwillig zur Herstellung
eines den nunmehrigen Machtverhältnissen entsprechenden Rechtes mitzuwirken
bereit ist; andernfalls zwingt die Logik der historischen Entwickelung den
aufsteigenden Theil zum formellen Bruch des geschriebenen Rechtes, um dem
höheren Recht der thatsächlichen historischen Existenz Geltung zu verschaffen.

Die brüske Form der russischen Initiative ist es, welche fast mehr als
der Inhalt der Erklärung verletzt hat. Ohne aus eine Untersuchung darüber
einzugehen, ob ein formeller Rechtsbruch vorliegt oder nicht, kann man doch
soviel sagen, daß jeder Versuch Rußlands, ohne vorherige Schaffung eines
ks.it aeeomM auf dem Wege freier Vereinbarung zu der von ihm gewünsch¬
ten Abänderung des Pariser Friedens zu gelangen, von vornherein dem von
possumus der Garantiemächte gegenüber aussichtslos war. Giebt man dies
zu (was freilich jetzt post echon die Garantiemächte nicht thun werden), so
blieb Rußland gar keine Wahl, entweder die auferlegte Beschränkung weiter


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[0349] schwarzen Meere auf die Dauer werde beschränken lassen, hieß so viel als glauben, daß ein Mensch sich das Athmen der Luft werde beschränken lassen, die sein Lebenselement bildet. Keinem denkenden Politiker konnte es zweifel¬ haft sein, daß dieser Artikel ein Provisorium sei, das nur so lange Bestand haben werde, als die Garantiemächte die Macht haben würden, über ihn zu wachen. Diese Machtverhältnisse aber haben sich wesentlich verschoben. Würde der Krimkrieg heute ausbrechen, es wäre so gut wie sicher, daß die West¬ mächte ihre Hunderttausende von Menschen und ihre Millionen an Geld vergeblich opfern würden. Nußland verfügt jetzt über eine ungleich stärkere und bessere Armee als damals, die es sich seit 11 Jahren durch eine voll¬ ständige und jetzt beinahe vollendete Umgestaltung in einer der preußischen nahekommenden Weise geschaffen hat; es verfügt ferner über ein wenn auch noch unvollkommenes Eisenbahnnetz, das sein weites Gebiet durchzieht. Dem Wachsen der Ostmacht steht das Abnehmen der Westmächte gegenüber: Eng¬ land immer mehr in Krämerinteressen und seniler Lethargie verkommend, Frankreich in seiner tiefsten Erniedrigung. Kann es uns wundern, wenn das alte historische Gesetz sich von Neuem bewahrheitet, daß geschriebene Ver¬ träge nur so lange halten, als die Machtverhältnisse Bestand haben, deren Ausdruck sie waren? Der Nechtstheoretiker mag dieses Gesetz bedauerlich, der Geschichtsphilosoph mag es ersprießlich und fördersam finden, darauf kommt nichts an, sondern auf die Thatsache, daß es gegolten hat, so lange es eine Geschichte gibt, und ebenso lange gelten wird, gleichviel ob es sich um inter¬ nationale oder um innere Verfassungsfragen handelt. Das historische Recht wird zum historischen Unrecht, sobald die Machtverhältnisse, zu deren recht¬ licher Fixirung es dienen sollte, das geschriebene Wort Lügen strafen. Wohl dem im Niedergang begriffenen Theile, wenn er gutwillig zur Herstellung eines den nunmehrigen Machtverhältnissen entsprechenden Rechtes mitzuwirken bereit ist; andernfalls zwingt die Logik der historischen Entwickelung den aufsteigenden Theil zum formellen Bruch des geschriebenen Rechtes, um dem höheren Recht der thatsächlichen historischen Existenz Geltung zu verschaffen. Die brüske Form der russischen Initiative ist es, welche fast mehr als der Inhalt der Erklärung verletzt hat. Ohne aus eine Untersuchung darüber einzugehen, ob ein formeller Rechtsbruch vorliegt oder nicht, kann man doch soviel sagen, daß jeder Versuch Rußlands, ohne vorherige Schaffung eines ks.it aeeomM auf dem Wege freier Vereinbarung zu der von ihm gewünsch¬ ten Abänderung des Pariser Friedens zu gelangen, von vornherein dem von possumus der Garantiemächte gegenüber aussichtslos war. Giebt man dies zu (was freilich jetzt post echon die Garantiemächte nicht thun werden), so blieb Rußland gar keine Wahl, entweder die auferlegte Beschränkung weiter

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124705/349>, abgerufen am 22.12.2024.