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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band.

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und Rochefort, Gambetta und Napoleon III., überein: daß das französische
Volk aus eigener Kraft seinen heiligen Boden der Coalition des feudalen
Europas wieder entriß, um hierauf einen beispiellosen Triumph über dieselbe
zu feiern.

Für die vielgerühmte deutsche Gründlichkeit ist es in hohem Grade be¬
schämend, daß diese Theorie ein halbes Jahrhundert diesseits des Rheines
gläubig nachgebetet wurde. Alle Parteischattirungen der Franzosen hatten
eine originale Meinung über die große Umwälzung formulirt, die Deutschen
bezogen die ihrige, wie etwa einen Modestoff, von Paris -- ein Zustand
schmachvoller Abhängigkeit, dessen Wiederkehr die Siege von 1870 hoffent¬
lich für immer unmöglich gemacht haben!

Ungefähr gleichzeitig, Anfangs der SO ger Jahre, wurde die Alleinherr¬
schaft der französischen Tradition durch zwei deutsche Forscher, Ludwig
Hauffer und Heinrich von Sybel gebrochen. Der erstere ist, nachdem er sein
Meisterwerk, die "deutsche Geschichte vom Tode Friedrichs des Großen bis
zur Gründung des deutschen Bundes", in dritter Auflage vollendet hat, von
uns genommen, der letztere hat so eben eine Fortsetzung seiner "Geschichte
der Revolutionszeit von 1789 bis 1793" unter dem etwas veränderten Titel
"von 1789 bis 1800" der Oeffentlichkeit übergeben; die zunächst vorliegende
erste Abtheilung des vierten Bandes umfaßt außer dem Jahre 1796 die
letzten Monate von 1793 und die ersten von 1797. In einem Augen¬
blicke, wo draußen unsere Heeere von Sieg zu Sieg eilen, muß es für die
daheim Zurückgelassenen tröstend sein, hier zu sehen, wie der nationale Geist
seine Triumphe nicht nur auf den Schlachtfeldern feiert.

Wenn man die beiden Werke von Mignet und Thiers liest, welche die
französische Tradition über die Revolution am getreuesten wiedergeben, so
erstaunt man über die Leichtfertigkeit der Forschung, die Oberflächlichkeit der
Auffassung und das Phrasenhafte der Darstellung; man fühlt sich angewidert
von diesen ewigen Lobpreisungen der großen Nation und den heuchlerischen
Tiraden gegen das alte Europa, von der steten Bereitwilligkeit, auch für die
ärgsten Schandthaten eine Entschuldigung zu ersinnen und von der an muha-
medanischen Fatalismus streifenden Anbetung des Erfolges. Die außer¬
ordentliche Verbreitung beider Bücher auch außerhalb Frankreichs wäre un¬
begreiflich, wenn sie nicht neben vielen Fehlern einige Vorzüge aufzuweisen
hätten: eine allgemein verständliche, sauber geglättete und geschliffene Sprache
und die Einheit der Auffassung, welche der Masse der Halbgebildeten mehr
imponirt als die Wahrheit, auf deren Kosten sie in diesem Falle erkauft ist.
So weit der Geist unseres Volkes von dem des französischen, ist auch H. von
Sybel von seinen französischen Vorgängern verschieden. Der solide Unterbau
der Forschung, hier, wo nicht ganz vermißt, doch deutliche Spuren von Unlust


und Rochefort, Gambetta und Napoleon III., überein: daß das französische
Volk aus eigener Kraft seinen heiligen Boden der Coalition des feudalen
Europas wieder entriß, um hierauf einen beispiellosen Triumph über dieselbe
zu feiern.

Für die vielgerühmte deutsche Gründlichkeit ist es in hohem Grade be¬
schämend, daß diese Theorie ein halbes Jahrhundert diesseits des Rheines
gläubig nachgebetet wurde. Alle Parteischattirungen der Franzosen hatten
eine originale Meinung über die große Umwälzung formulirt, die Deutschen
bezogen die ihrige, wie etwa einen Modestoff, von Paris — ein Zustand
schmachvoller Abhängigkeit, dessen Wiederkehr die Siege von 1870 hoffent¬
lich für immer unmöglich gemacht haben!

Ungefähr gleichzeitig, Anfangs der SO ger Jahre, wurde die Alleinherr¬
schaft der französischen Tradition durch zwei deutsche Forscher, Ludwig
Hauffer und Heinrich von Sybel gebrochen. Der erstere ist, nachdem er sein
Meisterwerk, die „deutsche Geschichte vom Tode Friedrichs des Großen bis
zur Gründung des deutschen Bundes", in dritter Auflage vollendet hat, von
uns genommen, der letztere hat so eben eine Fortsetzung seiner „Geschichte
der Revolutionszeit von 1789 bis 1793" unter dem etwas veränderten Titel
„von 1789 bis 1800" der Oeffentlichkeit übergeben; die zunächst vorliegende
erste Abtheilung des vierten Bandes umfaßt außer dem Jahre 1796 die
letzten Monate von 1793 und die ersten von 1797. In einem Augen¬
blicke, wo draußen unsere Heeere von Sieg zu Sieg eilen, muß es für die
daheim Zurückgelassenen tröstend sein, hier zu sehen, wie der nationale Geist
seine Triumphe nicht nur auf den Schlachtfeldern feiert.

Wenn man die beiden Werke von Mignet und Thiers liest, welche die
französische Tradition über die Revolution am getreuesten wiedergeben, so
erstaunt man über die Leichtfertigkeit der Forschung, die Oberflächlichkeit der
Auffassung und das Phrasenhafte der Darstellung; man fühlt sich angewidert
von diesen ewigen Lobpreisungen der großen Nation und den heuchlerischen
Tiraden gegen das alte Europa, von der steten Bereitwilligkeit, auch für die
ärgsten Schandthaten eine Entschuldigung zu ersinnen und von der an muha-
medanischen Fatalismus streifenden Anbetung des Erfolges. Die außer¬
ordentliche Verbreitung beider Bücher auch außerhalb Frankreichs wäre un¬
begreiflich, wenn sie nicht neben vielen Fehlern einige Vorzüge aufzuweisen
hätten: eine allgemein verständliche, sauber geglättete und geschliffene Sprache
und die Einheit der Auffassung, welche der Masse der Halbgebildeten mehr
imponirt als die Wahrheit, auf deren Kosten sie in diesem Falle erkauft ist.
So weit der Geist unseres Volkes von dem des französischen, ist auch H. von
Sybel von seinen französischen Vorgängern verschieden. Der solide Unterbau
der Forschung, hier, wo nicht ganz vermißt, doch deutliche Spuren von Unlust


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[0330] und Rochefort, Gambetta und Napoleon III., überein: daß das französische Volk aus eigener Kraft seinen heiligen Boden der Coalition des feudalen Europas wieder entriß, um hierauf einen beispiellosen Triumph über dieselbe zu feiern. Für die vielgerühmte deutsche Gründlichkeit ist es in hohem Grade be¬ schämend, daß diese Theorie ein halbes Jahrhundert diesseits des Rheines gläubig nachgebetet wurde. Alle Parteischattirungen der Franzosen hatten eine originale Meinung über die große Umwälzung formulirt, die Deutschen bezogen die ihrige, wie etwa einen Modestoff, von Paris — ein Zustand schmachvoller Abhängigkeit, dessen Wiederkehr die Siege von 1870 hoffent¬ lich für immer unmöglich gemacht haben! Ungefähr gleichzeitig, Anfangs der SO ger Jahre, wurde die Alleinherr¬ schaft der französischen Tradition durch zwei deutsche Forscher, Ludwig Hauffer und Heinrich von Sybel gebrochen. Der erstere ist, nachdem er sein Meisterwerk, die „deutsche Geschichte vom Tode Friedrichs des Großen bis zur Gründung des deutschen Bundes", in dritter Auflage vollendet hat, von uns genommen, der letztere hat so eben eine Fortsetzung seiner „Geschichte der Revolutionszeit von 1789 bis 1793" unter dem etwas veränderten Titel „von 1789 bis 1800" der Oeffentlichkeit übergeben; die zunächst vorliegende erste Abtheilung des vierten Bandes umfaßt außer dem Jahre 1796 die letzten Monate von 1793 und die ersten von 1797. In einem Augen¬ blicke, wo draußen unsere Heeere von Sieg zu Sieg eilen, muß es für die daheim Zurückgelassenen tröstend sein, hier zu sehen, wie der nationale Geist seine Triumphe nicht nur auf den Schlachtfeldern feiert. Wenn man die beiden Werke von Mignet und Thiers liest, welche die französische Tradition über die Revolution am getreuesten wiedergeben, so erstaunt man über die Leichtfertigkeit der Forschung, die Oberflächlichkeit der Auffassung und das Phrasenhafte der Darstellung; man fühlt sich angewidert von diesen ewigen Lobpreisungen der großen Nation und den heuchlerischen Tiraden gegen das alte Europa, von der steten Bereitwilligkeit, auch für die ärgsten Schandthaten eine Entschuldigung zu ersinnen und von der an muha- medanischen Fatalismus streifenden Anbetung des Erfolges. Die außer¬ ordentliche Verbreitung beider Bücher auch außerhalb Frankreichs wäre un¬ begreiflich, wenn sie nicht neben vielen Fehlern einige Vorzüge aufzuweisen hätten: eine allgemein verständliche, sauber geglättete und geschliffene Sprache und die Einheit der Auffassung, welche der Masse der Halbgebildeten mehr imponirt als die Wahrheit, auf deren Kosten sie in diesem Falle erkauft ist. So weit der Geist unseres Volkes von dem des französischen, ist auch H. von Sybel von seinen französischen Vorgängern verschieden. Der solide Unterbau der Forschung, hier, wo nicht ganz vermißt, doch deutliche Spuren von Unlust

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124705/330>, abgerufen am 22.12.2024.