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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band.

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Französischer Mythus und deutsche Kritik über die Äcchre 1795--97.

H. v. Sybel: Geschichte der Revolutionszeit von 1789--1800. IV. Bd. 1. Abth.

Wer jemals neben einander alte und neue Geschichte studirt hat, ist
durch einen augenfälligen Unterschied in der Beschaffenheit des Quellen -
Materials überrascht worden. In der alten Geschichte handelt es sich meist
um wenige Stellen, höchstens Seiten eines Schriftstellers, zu denen günstigen
Falls einige Urkunden- und Denkmäler-Reste hinzukommen: der Forscher ar¬
beitet mit lauter Mosaikstiften und ist froh, wenn das gewonnene Bild keine
zu großen Lücken aufweist. Gilt es hier aus wenigem viel zu machen, so
in der neuen Geschichte weniges aus vielem; der Stoff wächst, je mehr man
sich der Gegenwart nähert, in reißend schneller Progression, so daß, wer
nicht versteht, sich zu orientiren, zu übersehen, zu beherrschen, entweder er¬
drückt wird und zu gar keinem umfassenden Standpunkt gelangt oder sich
mit einem leichten Abhübe von den Quellen begnügt, dafür seiner Phantasie
einen desto freieren Spielraum gewährend. Daher können die reichhaltigsten
Perioden doch die relativ unbekanntesten bleiben oder der Tummelplatz des
Mythus werden, welchen man sonst nur im grauen Alterthum zu suchen ge¬
neigt ist.

Kein Abschnitt der neueren Geschichte ist von diesem Schicksal mehr be¬
troffen worden, als das Zeitalter der französischen Revolution. Hier ist der
Zufluß von Material so überwältigend, daß die Schnelligkeit und Dreistig¬
keit manches Urtheils in Erstaunen setzen müßte, wenn man außer Acht
ließe, daß sie der Gegenwart viel zu nahe liegt, um irgend eine Partei von
der Nothwendigkeit einer selbständigen Kritik zu entbinden. In Frankreich
haben denn auch weder die Legitimisten noch die Orleanisten, weder die
Bonapartisten noch die Socialisten verabsäumt, sie zum Gegenstande eines
Dogmas zu machen, welches ebenso unerschütterlich ist, wie etwa dasjenige
über das Verhältniß des Staates zur Kirche oder zur Gesellschaft. Auf
das erheblichste weichen diese Dogmen von einander ab, indeß über einen
Punkt kommen bis heute alle Franzosen von rechts und links her, Guizot


Grenzboten IV. 1870. 41
Französischer Mythus und deutsche Kritik über die Äcchre 1795—97.

H. v. Sybel: Geschichte der Revolutionszeit von 1789—1800. IV. Bd. 1. Abth.

Wer jemals neben einander alte und neue Geschichte studirt hat, ist
durch einen augenfälligen Unterschied in der Beschaffenheit des Quellen -
Materials überrascht worden. In der alten Geschichte handelt es sich meist
um wenige Stellen, höchstens Seiten eines Schriftstellers, zu denen günstigen
Falls einige Urkunden- und Denkmäler-Reste hinzukommen: der Forscher ar¬
beitet mit lauter Mosaikstiften und ist froh, wenn das gewonnene Bild keine
zu großen Lücken aufweist. Gilt es hier aus wenigem viel zu machen, so
in der neuen Geschichte weniges aus vielem; der Stoff wächst, je mehr man
sich der Gegenwart nähert, in reißend schneller Progression, so daß, wer
nicht versteht, sich zu orientiren, zu übersehen, zu beherrschen, entweder er¬
drückt wird und zu gar keinem umfassenden Standpunkt gelangt oder sich
mit einem leichten Abhübe von den Quellen begnügt, dafür seiner Phantasie
einen desto freieren Spielraum gewährend. Daher können die reichhaltigsten
Perioden doch die relativ unbekanntesten bleiben oder der Tummelplatz des
Mythus werden, welchen man sonst nur im grauen Alterthum zu suchen ge¬
neigt ist.

Kein Abschnitt der neueren Geschichte ist von diesem Schicksal mehr be¬
troffen worden, als das Zeitalter der französischen Revolution. Hier ist der
Zufluß von Material so überwältigend, daß die Schnelligkeit und Dreistig¬
keit manches Urtheils in Erstaunen setzen müßte, wenn man außer Acht
ließe, daß sie der Gegenwart viel zu nahe liegt, um irgend eine Partei von
der Nothwendigkeit einer selbständigen Kritik zu entbinden. In Frankreich
haben denn auch weder die Legitimisten noch die Orleanisten, weder die
Bonapartisten noch die Socialisten verabsäumt, sie zum Gegenstande eines
Dogmas zu machen, welches ebenso unerschütterlich ist, wie etwa dasjenige
über das Verhältniß des Staates zur Kirche oder zur Gesellschaft. Auf
das erheblichste weichen diese Dogmen von einander ab, indeß über einen
Punkt kommen bis heute alle Franzosen von rechts und links her, Guizot


Grenzboten IV. 1870. 41
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[0329] Französischer Mythus und deutsche Kritik über die Äcchre 1795—97. H. v. Sybel: Geschichte der Revolutionszeit von 1789—1800. IV. Bd. 1. Abth. Wer jemals neben einander alte und neue Geschichte studirt hat, ist durch einen augenfälligen Unterschied in der Beschaffenheit des Quellen - Materials überrascht worden. In der alten Geschichte handelt es sich meist um wenige Stellen, höchstens Seiten eines Schriftstellers, zu denen günstigen Falls einige Urkunden- und Denkmäler-Reste hinzukommen: der Forscher ar¬ beitet mit lauter Mosaikstiften und ist froh, wenn das gewonnene Bild keine zu großen Lücken aufweist. Gilt es hier aus wenigem viel zu machen, so in der neuen Geschichte weniges aus vielem; der Stoff wächst, je mehr man sich der Gegenwart nähert, in reißend schneller Progression, so daß, wer nicht versteht, sich zu orientiren, zu übersehen, zu beherrschen, entweder er¬ drückt wird und zu gar keinem umfassenden Standpunkt gelangt oder sich mit einem leichten Abhübe von den Quellen begnügt, dafür seiner Phantasie einen desto freieren Spielraum gewährend. Daher können die reichhaltigsten Perioden doch die relativ unbekanntesten bleiben oder der Tummelplatz des Mythus werden, welchen man sonst nur im grauen Alterthum zu suchen ge¬ neigt ist. Kein Abschnitt der neueren Geschichte ist von diesem Schicksal mehr be¬ troffen worden, als das Zeitalter der französischen Revolution. Hier ist der Zufluß von Material so überwältigend, daß die Schnelligkeit und Dreistig¬ keit manches Urtheils in Erstaunen setzen müßte, wenn man außer Acht ließe, daß sie der Gegenwart viel zu nahe liegt, um irgend eine Partei von der Nothwendigkeit einer selbständigen Kritik zu entbinden. In Frankreich haben denn auch weder die Legitimisten noch die Orleanisten, weder die Bonapartisten noch die Socialisten verabsäumt, sie zum Gegenstande eines Dogmas zu machen, welches ebenso unerschütterlich ist, wie etwa dasjenige über das Verhältniß des Staates zur Kirche oder zur Gesellschaft. Auf das erheblichste weichen diese Dogmen von einander ab, indeß über einen Punkt kommen bis heute alle Franzosen von rechts und links her, Guizot Grenzboten IV. 1870. 41

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124705/329>, abgerufen am 22.12.2024.