Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

des Baumeisters zeigend, muß dort auch solche Beschauer wohlthuend be¬
rühren, welche in den Arbeitsstätten der historischen Wissenschaft weniger zu
Hause sind. Welche Riesenarbeit hat es gekostet, ehe das rohe, unbehauene
Material aus den Archiven von London und Neapel, Paris und Berlin,
dem Haag und nun endlich auch Wien zusammengetragen war, ganz zu ge-
schweigen von den laufenden bereits gedruckter Urkunden und Briefe, Reden
und Relationen. Noch deutlicher wird der Unterschied bei der Handhabung
der Kritik, der eigentlichen Waffe der geschichtlichen Wissenschaft unsres Jahr¬
hunderts. Deutschen Ursprungs, gibt sie seit den Tagen Wolff's und N-e-
buhr's dem deutschen Forscher das entscheidende Uebergewicht über die Frem¬
den, welche auch in der Darstellung der Revolution die Scheidung des Aechren
und Unächten, die Vergleichung der Quellen untereinander und ihre Prüfung
am Maßstabe der Urkunden nicht nur selber unzählig oft unterlassen, sondern
auch noch anderen durch gewissenlose Fälschung, wie z. B. der Briefe von
Marie Antoinette, erschwert haben. Mit seinem Lehrer Ranke theilt Shbel
die Gabe der Charakteristik und gewinnt damit einen weiteren Vorsprung
vor den französischen Rivalen, deren Zeichnungen in der Regel erschrecklich
plump und schablonenhaft ausfallen und nur mit Hilfe des Farbentopfes der
Rhetorik etwas aufgestutzt sind. Und das Lob einer geschmackvollen Form,
welches sonst nicht ohne Grund ihren historischen Schriften im Vergleich mit
den unsrigen gespendet wurde, müssen sie heute zum wenigsten mit uns thei¬
len; denn wir möchten den sehen, welcher sich zu den akademischen Cadenzen
von Thiers mehr hingezogen fühlte, als zu dem Style Shbels, der bei einem
wahrhaft classischen Ebenmaße und Glänze doch der das Herz zumeist bewe¬
genden individuellen Färbung nicht entbehrt. Endlich -- und dies ist in un¬
sern Augen nicht das geringste -- Sybel hat es aufgegeben, was noch so
manchem als das Ideal des Historikers gilt, seinen Standpunkt in den Wol¬
ken zu nehmen und die Dinge dieser Welt aus der Vogelperspective zu be¬
trachten: er nimmt, hierin einmal dem Beispiele der Franzosen folgend, in
einem doppelten Sinne, national und politisch, Partei; nur steht er nicht
auf dem schwankenden Grunde philosophischer ,Doctrin. sondern auf dem
festen Fundamente empirischer Forschung.

Er nimmt im nationalen Sinne Partei, d. h. er erklärt sich gegen jenen
Mythus von der Besiegung der Coalition durch das französische Volk, indem
er seine völlige Haltlosigkeit erweist. Die Mächte des alten Europas sind
nicht durch die 1co6e en rmrWe, sondern durch gegenseitiges Mißtrauen aus
Frankreich hinausgetrieben worden. Was vor Sybel in gar keinen oder
in einen sehr lockeren Zusammenhang mit den Vorgängen im Westen gebracht
wurde, die zweite und dritte Theilung Polens, ist der eigentliche Schlüssel
für das Verständniß der kriegerischen Operationen am Rhein in den Jahren


des Baumeisters zeigend, muß dort auch solche Beschauer wohlthuend be¬
rühren, welche in den Arbeitsstätten der historischen Wissenschaft weniger zu
Hause sind. Welche Riesenarbeit hat es gekostet, ehe das rohe, unbehauene
Material aus den Archiven von London und Neapel, Paris und Berlin,
dem Haag und nun endlich auch Wien zusammengetragen war, ganz zu ge-
schweigen von den laufenden bereits gedruckter Urkunden und Briefe, Reden
und Relationen. Noch deutlicher wird der Unterschied bei der Handhabung
der Kritik, der eigentlichen Waffe der geschichtlichen Wissenschaft unsres Jahr¬
hunderts. Deutschen Ursprungs, gibt sie seit den Tagen Wolff's und N-e-
buhr's dem deutschen Forscher das entscheidende Uebergewicht über die Frem¬
den, welche auch in der Darstellung der Revolution die Scheidung des Aechren
und Unächten, die Vergleichung der Quellen untereinander und ihre Prüfung
am Maßstabe der Urkunden nicht nur selber unzählig oft unterlassen, sondern
auch noch anderen durch gewissenlose Fälschung, wie z. B. der Briefe von
Marie Antoinette, erschwert haben. Mit seinem Lehrer Ranke theilt Shbel
die Gabe der Charakteristik und gewinnt damit einen weiteren Vorsprung
vor den französischen Rivalen, deren Zeichnungen in der Regel erschrecklich
plump und schablonenhaft ausfallen und nur mit Hilfe des Farbentopfes der
Rhetorik etwas aufgestutzt sind. Und das Lob einer geschmackvollen Form,
welches sonst nicht ohne Grund ihren historischen Schriften im Vergleich mit
den unsrigen gespendet wurde, müssen sie heute zum wenigsten mit uns thei¬
len; denn wir möchten den sehen, welcher sich zu den akademischen Cadenzen
von Thiers mehr hingezogen fühlte, als zu dem Style Shbels, der bei einem
wahrhaft classischen Ebenmaße und Glänze doch der das Herz zumeist bewe¬
genden individuellen Färbung nicht entbehrt. Endlich — und dies ist in un¬
sern Augen nicht das geringste — Sybel hat es aufgegeben, was noch so
manchem als das Ideal des Historikers gilt, seinen Standpunkt in den Wol¬
ken zu nehmen und die Dinge dieser Welt aus der Vogelperspective zu be¬
trachten: er nimmt, hierin einmal dem Beispiele der Franzosen folgend, in
einem doppelten Sinne, national und politisch, Partei; nur steht er nicht
auf dem schwankenden Grunde philosophischer ,Doctrin. sondern auf dem
festen Fundamente empirischer Forschung.

Er nimmt im nationalen Sinne Partei, d. h. er erklärt sich gegen jenen
Mythus von der Besiegung der Coalition durch das französische Volk, indem
er seine völlige Haltlosigkeit erweist. Die Mächte des alten Europas sind
nicht durch die 1co6e en rmrWe, sondern durch gegenseitiges Mißtrauen aus
Frankreich hinausgetrieben worden. Was vor Sybel in gar keinen oder
in einen sehr lockeren Zusammenhang mit den Vorgängen im Westen gebracht
wurde, die zweite und dritte Theilung Polens, ist der eigentliche Schlüssel
für das Verständniß der kriegerischen Operationen am Rhein in den Jahren


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0331" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/125037"/>
          <p xml:id="ID_1003" prev="#ID_1002"> des Baumeisters zeigend, muß dort auch solche Beschauer wohlthuend be¬<lb/>
rühren, welche in den Arbeitsstätten der historischen Wissenschaft weniger zu<lb/>
Hause sind. Welche Riesenarbeit hat es gekostet, ehe das rohe, unbehauene<lb/>
Material aus den Archiven von London und Neapel, Paris und Berlin,<lb/>
dem Haag und nun endlich auch Wien zusammengetragen war, ganz zu ge-<lb/>
schweigen von den laufenden bereits gedruckter Urkunden und Briefe, Reden<lb/>
und Relationen. Noch deutlicher wird der Unterschied bei der Handhabung<lb/>
der Kritik, der eigentlichen Waffe der geschichtlichen Wissenschaft unsres Jahr¬<lb/>
hunderts. Deutschen Ursprungs, gibt sie seit den Tagen Wolff's und N-e-<lb/>
buhr's dem deutschen Forscher das entscheidende Uebergewicht über die Frem¬<lb/>
den, welche auch in der Darstellung der Revolution die Scheidung des Aechren<lb/>
und Unächten, die Vergleichung der Quellen untereinander und ihre Prüfung<lb/>
am Maßstabe der Urkunden nicht nur selber unzählig oft unterlassen, sondern<lb/>
auch noch anderen durch gewissenlose Fälschung, wie z. B. der Briefe von<lb/>
Marie Antoinette, erschwert haben. Mit seinem Lehrer Ranke theilt Shbel<lb/>
die Gabe der Charakteristik und gewinnt damit einen weiteren Vorsprung<lb/>
vor den französischen Rivalen, deren Zeichnungen in der Regel erschrecklich<lb/>
plump und schablonenhaft ausfallen und nur mit Hilfe des Farbentopfes der<lb/>
Rhetorik etwas aufgestutzt sind. Und das Lob einer geschmackvollen Form,<lb/>
welches sonst nicht ohne Grund ihren historischen Schriften im Vergleich mit<lb/>
den unsrigen gespendet wurde, müssen sie heute zum wenigsten mit uns thei¬<lb/>
len; denn wir möchten den sehen, welcher sich zu den akademischen Cadenzen<lb/>
von Thiers mehr hingezogen fühlte, als zu dem Style Shbels, der bei einem<lb/>
wahrhaft classischen Ebenmaße und Glänze doch der das Herz zumeist bewe¬<lb/>
genden individuellen Färbung nicht entbehrt. Endlich &#x2014; und dies ist in un¬<lb/>
sern Augen nicht das geringste &#x2014; Sybel hat es aufgegeben, was noch so<lb/>
manchem als das Ideal des Historikers gilt, seinen Standpunkt in den Wol¬<lb/>
ken zu nehmen und die Dinge dieser Welt aus der Vogelperspective zu be¬<lb/>
trachten: er nimmt, hierin einmal dem Beispiele der Franzosen folgend, in<lb/>
einem doppelten Sinne, national und politisch, Partei; nur steht er nicht<lb/>
auf dem schwankenden Grunde philosophischer ,Doctrin. sondern auf dem<lb/>
festen Fundamente empirischer Forschung.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1004" next="#ID_1005"> Er nimmt im nationalen Sinne Partei, d. h. er erklärt sich gegen jenen<lb/>
Mythus von der Besiegung der Coalition durch das französische Volk, indem<lb/>
er seine völlige Haltlosigkeit erweist. Die Mächte des alten Europas sind<lb/>
nicht durch die 1co6e en rmrWe, sondern durch gegenseitiges Mißtrauen aus<lb/>
Frankreich hinausgetrieben worden. Was vor Sybel in gar keinen oder<lb/>
in einen sehr lockeren Zusammenhang mit den Vorgängen im Westen gebracht<lb/>
wurde, die zweite und dritte Theilung Polens, ist der eigentliche Schlüssel<lb/>
für das Verständniß der kriegerischen Operationen am Rhein in den Jahren</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"/><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0331] des Baumeisters zeigend, muß dort auch solche Beschauer wohlthuend be¬ rühren, welche in den Arbeitsstätten der historischen Wissenschaft weniger zu Hause sind. Welche Riesenarbeit hat es gekostet, ehe das rohe, unbehauene Material aus den Archiven von London und Neapel, Paris und Berlin, dem Haag und nun endlich auch Wien zusammengetragen war, ganz zu ge- schweigen von den laufenden bereits gedruckter Urkunden und Briefe, Reden und Relationen. Noch deutlicher wird der Unterschied bei der Handhabung der Kritik, der eigentlichen Waffe der geschichtlichen Wissenschaft unsres Jahr¬ hunderts. Deutschen Ursprungs, gibt sie seit den Tagen Wolff's und N-e- buhr's dem deutschen Forscher das entscheidende Uebergewicht über die Frem¬ den, welche auch in der Darstellung der Revolution die Scheidung des Aechren und Unächten, die Vergleichung der Quellen untereinander und ihre Prüfung am Maßstabe der Urkunden nicht nur selber unzählig oft unterlassen, sondern auch noch anderen durch gewissenlose Fälschung, wie z. B. der Briefe von Marie Antoinette, erschwert haben. Mit seinem Lehrer Ranke theilt Shbel die Gabe der Charakteristik und gewinnt damit einen weiteren Vorsprung vor den französischen Rivalen, deren Zeichnungen in der Regel erschrecklich plump und schablonenhaft ausfallen und nur mit Hilfe des Farbentopfes der Rhetorik etwas aufgestutzt sind. Und das Lob einer geschmackvollen Form, welches sonst nicht ohne Grund ihren historischen Schriften im Vergleich mit den unsrigen gespendet wurde, müssen sie heute zum wenigsten mit uns thei¬ len; denn wir möchten den sehen, welcher sich zu den akademischen Cadenzen von Thiers mehr hingezogen fühlte, als zu dem Style Shbels, der bei einem wahrhaft classischen Ebenmaße und Glänze doch der das Herz zumeist bewe¬ genden individuellen Färbung nicht entbehrt. Endlich — und dies ist in un¬ sern Augen nicht das geringste — Sybel hat es aufgegeben, was noch so manchem als das Ideal des Historikers gilt, seinen Standpunkt in den Wol¬ ken zu nehmen und die Dinge dieser Welt aus der Vogelperspective zu be¬ trachten: er nimmt, hierin einmal dem Beispiele der Franzosen folgend, in einem doppelten Sinne, national und politisch, Partei; nur steht er nicht auf dem schwankenden Grunde philosophischer ,Doctrin. sondern auf dem festen Fundamente empirischer Forschung. Er nimmt im nationalen Sinne Partei, d. h. er erklärt sich gegen jenen Mythus von der Besiegung der Coalition durch das französische Volk, indem er seine völlige Haltlosigkeit erweist. Die Mächte des alten Europas sind nicht durch die 1co6e en rmrWe, sondern durch gegenseitiges Mißtrauen aus Frankreich hinausgetrieben worden. Was vor Sybel in gar keinen oder in einen sehr lockeren Zusammenhang mit den Vorgängen im Westen gebracht wurde, die zweite und dritte Theilung Polens, ist der eigentliche Schlüssel für das Verständniß der kriegerischen Operationen am Rhein in den Jahren

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124705
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124705/331
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124705/331>, abgerufen am 23.12.2024.