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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band.

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Setzung aus Philine und Mignon, wie I. Schmidt richtig sagt, -- gruppirt, ist
so phantastisch launenhaft, daß wir ihr nicht zu folgen vermögen und auch keine
Berechtigung solcher Gestalten in den wunderlichen Blasen finden können, welche
die Ausartungen der Romantik aufwerfen. Aber dessen ungeachtet bleibt das
Werk von dauerndem poetischen und culturhistorischen Werthe, der Charakter
der Zeit tritt uns mit so realer Lebendigkeit entgegen, daß Niemand, der die
Geschichte der zwanziger Jahre kennen lernen will, die Epigonen ungelesen
lassen kann. Die Existenz auf dem herzoglichen Schlosse, die uns das
Zwitterwesen der Mediatisirten vorführt, welche ihre Duodezselbständigkeit
verloren und doch keine Stellung in dem Staate gefunden, in den sie aufge"
gangen, im Gegensatz dazu die wachsende Bedeutung der großen Industrie,
das ästhetisirende Treiben des Berliner Kreises, das Bild der philologischen
Rectorsfamilie, sind mit vollster Naturwahrheit gezeichnet, die Gestalten der
Herzogin, Johannes und vor allem Cornelius sind lebensvoll und schön
durchgeführt.

Von weit höherem künstlerischen Werthe ist Immermann's zweiter und
letzter Roman, Münchhausen, der ja auch so verbreitet und besprochen ist,
daß es überflüssig wäre, hier näher auf Einzelnes einzugehen. Indem der
Dichter der Unwahrheit und Verschrobenheit, die sich vor seinen Augen in
Leben und Literatur breit machte, den Spiegel ihrer eigenen Thorheit vor¬
hielt und dieser Welt der Unnatur die Gediegenheit des westphälischen Bauern¬
lebens, die Gesundheit edler, kraftvoller Persönlichkeiten, die Reinheit der
jungfräulichen Liebe gegenüberstellte, hat er ein Gedicht geschaffen, das unver¬
gänglich im deutschen Schriftthum leben wird. Man fühlt aber auch in der
Geschichte der Liebe von Oswald und Lisbeth den Abglanz des eignen Er¬
lebnisses des Dichters, dem in der Arbeit das ersehnte aber kaum gehoffte
Geschenk einer bräutlichen Liebe ward, welche die innere Harmonie seines
Lebens wiederherstellte.

Das Capitel, welches uns Auszüge aus den Briefen Immermann's an
seine Braut Marianne Niemeyer gibt, gehört zu den schönsten des vorliegen¬
den Buches. Aus diesen Ergüssen lernen wir seine hohe und edle Natur
wahrhaft verstehen und ermessen mit Schmerz, wie viel Großes er bei län¬
gerem Leben noch hätte leisten können, nachdem er sich zum innern Frieden durch¬
gerungen. Noch kein Jahr hatte er denselben in seiner jungen Häuslichkeit
genossen, als ihn ein Fieber in voller Manneskraft, mitten im rüstigsten dich¬
terischen Schaffen hinwegraffte, in dem Augenblicke, wo Friedrich Wit.
Helm's IV. Thronbesteigung die Aussicht auf eine Thätigkeit eröffnete, welche
seiner Kraft einen würdigeren Wirkungskreis hätte geben können. Tristan
und Isolde, ein Gedicht, das so großes versprach, blieb unvollendet, wie daS
Werk Gottfrieds von Straßburg; ebenso die Memorabilien.


Setzung aus Philine und Mignon, wie I. Schmidt richtig sagt, — gruppirt, ist
so phantastisch launenhaft, daß wir ihr nicht zu folgen vermögen und auch keine
Berechtigung solcher Gestalten in den wunderlichen Blasen finden können, welche
die Ausartungen der Romantik aufwerfen. Aber dessen ungeachtet bleibt das
Werk von dauerndem poetischen und culturhistorischen Werthe, der Charakter
der Zeit tritt uns mit so realer Lebendigkeit entgegen, daß Niemand, der die
Geschichte der zwanziger Jahre kennen lernen will, die Epigonen ungelesen
lassen kann. Die Existenz auf dem herzoglichen Schlosse, die uns das
Zwitterwesen der Mediatisirten vorführt, welche ihre Duodezselbständigkeit
verloren und doch keine Stellung in dem Staate gefunden, in den sie aufge»
gangen, im Gegensatz dazu die wachsende Bedeutung der großen Industrie,
das ästhetisirende Treiben des Berliner Kreises, das Bild der philologischen
Rectorsfamilie, sind mit vollster Naturwahrheit gezeichnet, die Gestalten der
Herzogin, Johannes und vor allem Cornelius sind lebensvoll und schön
durchgeführt.

Von weit höherem künstlerischen Werthe ist Immermann's zweiter und
letzter Roman, Münchhausen, der ja auch so verbreitet und besprochen ist,
daß es überflüssig wäre, hier näher auf Einzelnes einzugehen. Indem der
Dichter der Unwahrheit und Verschrobenheit, die sich vor seinen Augen in
Leben und Literatur breit machte, den Spiegel ihrer eigenen Thorheit vor¬
hielt und dieser Welt der Unnatur die Gediegenheit des westphälischen Bauern¬
lebens, die Gesundheit edler, kraftvoller Persönlichkeiten, die Reinheit der
jungfräulichen Liebe gegenüberstellte, hat er ein Gedicht geschaffen, das unver¬
gänglich im deutschen Schriftthum leben wird. Man fühlt aber auch in der
Geschichte der Liebe von Oswald und Lisbeth den Abglanz des eignen Er¬
lebnisses des Dichters, dem in der Arbeit das ersehnte aber kaum gehoffte
Geschenk einer bräutlichen Liebe ward, welche die innere Harmonie seines
Lebens wiederherstellte.

Das Capitel, welches uns Auszüge aus den Briefen Immermann's an
seine Braut Marianne Niemeyer gibt, gehört zu den schönsten des vorliegen¬
den Buches. Aus diesen Ergüssen lernen wir seine hohe und edle Natur
wahrhaft verstehen und ermessen mit Schmerz, wie viel Großes er bei län¬
gerem Leben noch hätte leisten können, nachdem er sich zum innern Frieden durch¬
gerungen. Noch kein Jahr hatte er denselben in seiner jungen Häuslichkeit
genossen, als ihn ein Fieber in voller Manneskraft, mitten im rüstigsten dich¬
terischen Schaffen hinwegraffte, in dem Augenblicke, wo Friedrich Wit.
Helm's IV. Thronbesteigung die Aussicht auf eine Thätigkeit eröffnete, welche
seiner Kraft einen würdigeren Wirkungskreis hätte geben können. Tristan
und Isolde, ein Gedicht, das so großes versprach, blieb unvollendet, wie daS
Werk Gottfrieds von Straßburg; ebenso die Memorabilien.


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[0298] Setzung aus Philine und Mignon, wie I. Schmidt richtig sagt, — gruppirt, ist so phantastisch launenhaft, daß wir ihr nicht zu folgen vermögen und auch keine Berechtigung solcher Gestalten in den wunderlichen Blasen finden können, welche die Ausartungen der Romantik aufwerfen. Aber dessen ungeachtet bleibt das Werk von dauerndem poetischen und culturhistorischen Werthe, der Charakter der Zeit tritt uns mit so realer Lebendigkeit entgegen, daß Niemand, der die Geschichte der zwanziger Jahre kennen lernen will, die Epigonen ungelesen lassen kann. Die Existenz auf dem herzoglichen Schlosse, die uns das Zwitterwesen der Mediatisirten vorführt, welche ihre Duodezselbständigkeit verloren und doch keine Stellung in dem Staate gefunden, in den sie aufge» gangen, im Gegensatz dazu die wachsende Bedeutung der großen Industrie, das ästhetisirende Treiben des Berliner Kreises, das Bild der philologischen Rectorsfamilie, sind mit vollster Naturwahrheit gezeichnet, die Gestalten der Herzogin, Johannes und vor allem Cornelius sind lebensvoll und schön durchgeführt. Von weit höherem künstlerischen Werthe ist Immermann's zweiter und letzter Roman, Münchhausen, der ja auch so verbreitet und besprochen ist, daß es überflüssig wäre, hier näher auf Einzelnes einzugehen. Indem der Dichter der Unwahrheit und Verschrobenheit, die sich vor seinen Augen in Leben und Literatur breit machte, den Spiegel ihrer eigenen Thorheit vor¬ hielt und dieser Welt der Unnatur die Gediegenheit des westphälischen Bauern¬ lebens, die Gesundheit edler, kraftvoller Persönlichkeiten, die Reinheit der jungfräulichen Liebe gegenüberstellte, hat er ein Gedicht geschaffen, das unver¬ gänglich im deutschen Schriftthum leben wird. Man fühlt aber auch in der Geschichte der Liebe von Oswald und Lisbeth den Abglanz des eignen Er¬ lebnisses des Dichters, dem in der Arbeit das ersehnte aber kaum gehoffte Geschenk einer bräutlichen Liebe ward, welche die innere Harmonie seines Lebens wiederherstellte. Das Capitel, welches uns Auszüge aus den Briefen Immermann's an seine Braut Marianne Niemeyer gibt, gehört zu den schönsten des vorliegen¬ den Buches. Aus diesen Ergüssen lernen wir seine hohe und edle Natur wahrhaft verstehen und ermessen mit Schmerz, wie viel Großes er bei län¬ gerem Leben noch hätte leisten können, nachdem er sich zum innern Frieden durch¬ gerungen. Noch kein Jahr hatte er denselben in seiner jungen Häuslichkeit genossen, als ihn ein Fieber in voller Manneskraft, mitten im rüstigsten dich¬ terischen Schaffen hinwegraffte, in dem Augenblicke, wo Friedrich Wit. Helm's IV. Thronbesteigung die Aussicht auf eine Thätigkeit eröffnete, welche seiner Kraft einen würdigeren Wirkungskreis hätte geben können. Tristan und Isolde, ein Gedicht, das so großes versprach, blieb unvollendet, wie daS Werk Gottfrieds von Straßburg; ebenso die Memorabilien.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124705/298>, abgerufen am 22.12.2024.