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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band.

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Einzelnen Specialleseproben, aus denen sich die allgemeine Leseprobe erbaute,
wobei die schadhaften Rollen so lange nachgebessert wurden, bis das Ganze
in der Recitation als fertig gelten konnte. Die Action stellte er dann zuerst
in Zimmerproben fest, damit die Darstellenden in nackten, nüchternen Wänden
ihre Phantasie um so mehr spannen lernten und die Dämonen des Ge¬
spreizten, Rhetorischen oder der hohlen Handwerksmäßigkeit nicht verwirrend
auf sie einwirkten. Stand das Gedicht ohne alle illusoris.be Nothkrücke fertig
da, dann erst ging Immermann mit den Leuten auf das Theater. Gegeben
wurde ein Stück nicht eher als bis jeder, bis zum anmeldenden Bedienten
hinab, seine Rolle wenigstens so gut machte, als Naturell und Fleiß es ihm
nur irgend verstatteten." (2. S. 4.)

Es mag sein, daß er in der Beschränkung der Einzelnen zu weit ging,
wie Devrient sagt, und daß er selner Natur nach Stücken, in denen eine
phantasievolle Verknüpfung und poetische Rede vorherrschen, zu sehr den Vor¬
rang gab, aber Niemand wird verkennen, wie heilsam eine solcheZucht derZerfah-
renheit der deutschen Bühne gegenüber wirken mußte und ein Großes, mit verhält¬
nißmäßig mittelmäßigen Talenten, geleistet ward; das Düsseldorfer Theater bot
zum erstenmale seit langer Zeit eine kunstgemäß geleitete Bühne, die der
deutschen Dramaturgie und Schauspielkunst zur fruchtbarsten Anregung gereichte.
Lediglich aus Mangel an materiellen Mitteln mußte man die Aufgabe fallen
lassen, nachdem die schwersten Anfänge glücklich überwunden waren und
Immermann mit großen Opfern die Leitung des Theaters noch ein zweites
Jahr neben seinen Amtsgeschäften fortgesetzt hatte. Und nicht ganz ohne
bittere Beimischung abweisen läßt sich der Gedanke, was eine solche Kraft
hätte leisten können, wäre ihr ein Platz wie die Intendantur des Berliner
Schauspieles geboten!

Mitten in diesen dramaturgischen Arbeiten und Nöthen fand Immermann
Zeit und Kraft seinen ersten Roman im größeren Style, die Epigonen, zu
vollenden. Die Schwächen desselben sollen nicht verschwiegen werden, sie liegen
nicht blos in den zu starken Schatten, mit denen einzelne Partien, wie z. B.
die Demagogen ausgestattet sind, sondern vor allem in dem Zwiespalt der
Weltansicht des Dichters. Wohl war er berechtigt, der Zeit den Spiegel
hinzuhalten und die Epigonen waren eben überwiegend halbe und laue Men¬
schen, aber in der Führung des Dichters sollen wir dabei nie die feste Hand
vermissen und das thun wir in diesem Romane gar oft, die Verwicklung
z. B., welche den Helden eine Zeitlang irrsinnig werden läßt, weil er ein
unnatürliches Verbrechen begangen zu haben meint, wirkt nur beängstigend.
Medon, der geheimnißvolle, welcher als kalter Pessimist die Staatsmänner
benutzt, um eine Revolution hervorzurufen, bricht unmännlich zusammen, und
vollends die burleske Welt, welche sich um Flämmchen -- eine Zusammen-


Grenzboten IV. 1.87". 37

Einzelnen Specialleseproben, aus denen sich die allgemeine Leseprobe erbaute,
wobei die schadhaften Rollen so lange nachgebessert wurden, bis das Ganze
in der Recitation als fertig gelten konnte. Die Action stellte er dann zuerst
in Zimmerproben fest, damit die Darstellenden in nackten, nüchternen Wänden
ihre Phantasie um so mehr spannen lernten und die Dämonen des Ge¬
spreizten, Rhetorischen oder der hohlen Handwerksmäßigkeit nicht verwirrend
auf sie einwirkten. Stand das Gedicht ohne alle illusoris.be Nothkrücke fertig
da, dann erst ging Immermann mit den Leuten auf das Theater. Gegeben
wurde ein Stück nicht eher als bis jeder, bis zum anmeldenden Bedienten
hinab, seine Rolle wenigstens so gut machte, als Naturell und Fleiß es ihm
nur irgend verstatteten." (2. S. 4.)

Es mag sein, daß er in der Beschränkung der Einzelnen zu weit ging,
wie Devrient sagt, und daß er selner Natur nach Stücken, in denen eine
phantasievolle Verknüpfung und poetische Rede vorherrschen, zu sehr den Vor¬
rang gab, aber Niemand wird verkennen, wie heilsam eine solcheZucht derZerfah-
renheit der deutschen Bühne gegenüber wirken mußte und ein Großes, mit verhält¬
nißmäßig mittelmäßigen Talenten, geleistet ward; das Düsseldorfer Theater bot
zum erstenmale seit langer Zeit eine kunstgemäß geleitete Bühne, die der
deutschen Dramaturgie und Schauspielkunst zur fruchtbarsten Anregung gereichte.
Lediglich aus Mangel an materiellen Mitteln mußte man die Aufgabe fallen
lassen, nachdem die schwersten Anfänge glücklich überwunden waren und
Immermann mit großen Opfern die Leitung des Theaters noch ein zweites
Jahr neben seinen Amtsgeschäften fortgesetzt hatte. Und nicht ganz ohne
bittere Beimischung abweisen läßt sich der Gedanke, was eine solche Kraft
hätte leisten können, wäre ihr ein Platz wie die Intendantur des Berliner
Schauspieles geboten!

Mitten in diesen dramaturgischen Arbeiten und Nöthen fand Immermann
Zeit und Kraft seinen ersten Roman im größeren Style, die Epigonen, zu
vollenden. Die Schwächen desselben sollen nicht verschwiegen werden, sie liegen
nicht blos in den zu starken Schatten, mit denen einzelne Partien, wie z. B.
die Demagogen ausgestattet sind, sondern vor allem in dem Zwiespalt der
Weltansicht des Dichters. Wohl war er berechtigt, der Zeit den Spiegel
hinzuhalten und die Epigonen waren eben überwiegend halbe und laue Men¬
schen, aber in der Führung des Dichters sollen wir dabei nie die feste Hand
vermissen und das thun wir in diesem Romane gar oft, die Verwicklung
z. B., welche den Helden eine Zeitlang irrsinnig werden läßt, weil er ein
unnatürliches Verbrechen begangen zu haben meint, wirkt nur beängstigend.
Medon, der geheimnißvolle, welcher als kalter Pessimist die Staatsmänner
benutzt, um eine Revolution hervorzurufen, bricht unmännlich zusammen, und
vollends die burleske Welt, welche sich um Flämmchen — eine Zusammen-


Grenzboten IV. 1.87«. 37
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[0297] Einzelnen Specialleseproben, aus denen sich die allgemeine Leseprobe erbaute, wobei die schadhaften Rollen so lange nachgebessert wurden, bis das Ganze in der Recitation als fertig gelten konnte. Die Action stellte er dann zuerst in Zimmerproben fest, damit die Darstellenden in nackten, nüchternen Wänden ihre Phantasie um so mehr spannen lernten und die Dämonen des Ge¬ spreizten, Rhetorischen oder der hohlen Handwerksmäßigkeit nicht verwirrend auf sie einwirkten. Stand das Gedicht ohne alle illusoris.be Nothkrücke fertig da, dann erst ging Immermann mit den Leuten auf das Theater. Gegeben wurde ein Stück nicht eher als bis jeder, bis zum anmeldenden Bedienten hinab, seine Rolle wenigstens so gut machte, als Naturell und Fleiß es ihm nur irgend verstatteten." (2. S. 4.) Es mag sein, daß er in der Beschränkung der Einzelnen zu weit ging, wie Devrient sagt, und daß er selner Natur nach Stücken, in denen eine phantasievolle Verknüpfung und poetische Rede vorherrschen, zu sehr den Vor¬ rang gab, aber Niemand wird verkennen, wie heilsam eine solcheZucht derZerfah- renheit der deutschen Bühne gegenüber wirken mußte und ein Großes, mit verhält¬ nißmäßig mittelmäßigen Talenten, geleistet ward; das Düsseldorfer Theater bot zum erstenmale seit langer Zeit eine kunstgemäß geleitete Bühne, die der deutschen Dramaturgie und Schauspielkunst zur fruchtbarsten Anregung gereichte. Lediglich aus Mangel an materiellen Mitteln mußte man die Aufgabe fallen lassen, nachdem die schwersten Anfänge glücklich überwunden waren und Immermann mit großen Opfern die Leitung des Theaters noch ein zweites Jahr neben seinen Amtsgeschäften fortgesetzt hatte. Und nicht ganz ohne bittere Beimischung abweisen läßt sich der Gedanke, was eine solche Kraft hätte leisten können, wäre ihr ein Platz wie die Intendantur des Berliner Schauspieles geboten! Mitten in diesen dramaturgischen Arbeiten und Nöthen fand Immermann Zeit und Kraft seinen ersten Roman im größeren Style, die Epigonen, zu vollenden. Die Schwächen desselben sollen nicht verschwiegen werden, sie liegen nicht blos in den zu starken Schatten, mit denen einzelne Partien, wie z. B. die Demagogen ausgestattet sind, sondern vor allem in dem Zwiespalt der Weltansicht des Dichters. Wohl war er berechtigt, der Zeit den Spiegel hinzuhalten und die Epigonen waren eben überwiegend halbe und laue Men¬ schen, aber in der Führung des Dichters sollen wir dabei nie die feste Hand vermissen und das thun wir in diesem Romane gar oft, die Verwicklung z. B., welche den Helden eine Zeitlang irrsinnig werden läßt, weil er ein unnatürliches Verbrechen begangen zu haben meint, wirkt nur beängstigend. Medon, der geheimnißvolle, welcher als kalter Pessimist die Staatsmänner benutzt, um eine Revolution hervorzurufen, bricht unmännlich zusammen, und vollends die burleske Welt, welche sich um Flämmchen — eine Zusammen- Grenzboten IV. 1.87«. 37

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124705/297>, abgerufen am 22.12.2024.