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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band.

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einer treuen, charakterfester Mutter. Im häuslichen Leben reifte dieser poli¬
tische Charakter, mild, freundlich, in den anspruchslosen Lebensformen, in
welchen er (mit einer verhältnißmäßig kurzen Unterbrechung), als "Kind im
Hause" sich fühlte und bis zu seiner letzten Stunde wohl gefühlt hat. Die
stürmische Bewegung von 1848 vermochte nicht ihn heimisch zu machen in
einem Parteistreit, in welchem noch die gröberen instinctiven Gegensätze der
Gesellschaft das Wort führten. Erst nach einem weiteren Jahrzehnt war
eine Zeit herangewachsen, in welcher ein reiferes Verständniß für den deutschen
Staat, eine tiefere policische Bildung nachhaltigen Einfluß auf den Gang der
Ereignisse gewinnen konnte. Dem klaren Geist Tochter's stand jetzt der
Widerspruch vor Augen, welcher Preußen groß gemacht und doch immer
wieder seinem Staatsberuf entfremdet hat: der Gegensatz des Hofl->dens zu
den Bedürfnissen und Pflichten des wirklichen Staats. Er sah, wie die lange
Friedenszeit aus dem militärischen Beruf ein Ministerialenthum bildete, dessen
unsichtbarer und doch täglich wirksamer Einfluß den Staat nach außen wie
nach innen gesellschaftlichen, provinziellen und Familieninteressen dienstbar
machte. In dieser Zeit erschienen sure Flugschriften "Woran uns gelegen ist"
(Kiel 1859). und "Was uns noch retten kann" (Berlin 1861 bei Gutlentag).
Treffend, schonungslos, schneidend traf diese Kritik mitten in die Wunde,
und reizte den zunächst verletzten Repräsentanten der Hofgeneralität, den nicht
genannten Verfasser zu ermitteln und zum Zweckampf zu fordern, aus wel¬
chem Tochter mit einer Zerschmetterung und lange dauernden Lähmung des
rechten Armes hervorging.

Das Duell mit dem General v. Manteuffel hat Tochter widerwillig aus
dem kleinen Zimmer des väterlichen Hauses in das öffentliche Leben
gezogen. Er wurde für Berlin (später für Waldenburg-Reich-nbach) in das
Abgeordnetenhaus erwählt, in welches er am 14, Januar 1862 nach bereits
begonnenen Versassungsconflict eintrat. Nach 45jähria,er Friedenszeit, nach
der Selbstentsagung des preußischen Staatsberufö am Tage von Ollmütz, --
ohne national-politisches Ziel in Sicht, -- hatte die Volksvertretung ihre
Zustimmung zu einer Aenderung der gesetzlichen Wehrpflicht und des Geld¬
bedarfs der Militärverwaltung ve>sagt. Nach dieser Ablehnung begann
die Staatsverwaltung zuerst durch Selbstauslegung der Militärgesetze, in
einem zweiten Stadium durch Negation des Geldbewilliqungsrechtes der
Kammer ihre Maßregel aufrecht zu erhalten. Tochter trat in dieser Lage
zur Opposition. Anspruchslos, schüchtern in seinem ersten Auftreten als
Redner, wurde ihm doch von Anfang an eine leitende Stellung unter
den politischen Freunden, persönliche Achtung und Rücksicht auf Seiten der
Gegner zu Theil. Wir finden ihn schon in den ersten Wochen als Bericht¬
erstatter über einen die "Anerkennung des Königreichs Italien" und einen
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einer treuen, charakterfester Mutter. Im häuslichen Leben reifte dieser poli¬
tische Charakter, mild, freundlich, in den anspruchslosen Lebensformen, in
welchen er (mit einer verhältnißmäßig kurzen Unterbrechung), als „Kind im
Hause" sich fühlte und bis zu seiner letzten Stunde wohl gefühlt hat. Die
stürmische Bewegung von 1848 vermochte nicht ihn heimisch zu machen in
einem Parteistreit, in welchem noch die gröberen instinctiven Gegensätze der
Gesellschaft das Wort führten. Erst nach einem weiteren Jahrzehnt war
eine Zeit herangewachsen, in welcher ein reiferes Verständniß für den deutschen
Staat, eine tiefere policische Bildung nachhaltigen Einfluß auf den Gang der
Ereignisse gewinnen konnte. Dem klaren Geist Tochter's stand jetzt der
Widerspruch vor Augen, welcher Preußen groß gemacht und doch immer
wieder seinem Staatsberuf entfremdet hat: der Gegensatz des Hofl->dens zu
den Bedürfnissen und Pflichten des wirklichen Staats. Er sah, wie die lange
Friedenszeit aus dem militärischen Beruf ein Ministerialenthum bildete, dessen
unsichtbarer und doch täglich wirksamer Einfluß den Staat nach außen wie
nach innen gesellschaftlichen, provinziellen und Familieninteressen dienstbar
machte. In dieser Zeit erschienen sure Flugschriften „Woran uns gelegen ist"
(Kiel 1859). und „Was uns noch retten kann" (Berlin 1861 bei Gutlentag).
Treffend, schonungslos, schneidend traf diese Kritik mitten in die Wunde,
und reizte den zunächst verletzten Repräsentanten der Hofgeneralität, den nicht
genannten Verfasser zu ermitteln und zum Zweckampf zu fordern, aus wel¬
chem Tochter mit einer Zerschmetterung und lange dauernden Lähmung des
rechten Armes hervorging.

Das Duell mit dem General v. Manteuffel hat Tochter widerwillig aus
dem kleinen Zimmer des väterlichen Hauses in das öffentliche Leben
gezogen. Er wurde für Berlin (später für Waldenburg-Reich-nbach) in das
Abgeordnetenhaus erwählt, in welches er am 14, Januar 1862 nach bereits
begonnenen Versassungsconflict eintrat. Nach 45jähria,er Friedenszeit, nach
der Selbstentsagung des preußischen Staatsberufö am Tage von Ollmütz, —
ohne national-politisches Ziel in Sicht, — hatte die Volksvertretung ihre
Zustimmung zu einer Aenderung der gesetzlichen Wehrpflicht und des Geld¬
bedarfs der Militärverwaltung ve>sagt. Nach dieser Ablehnung begann
die Staatsverwaltung zuerst durch Selbstauslegung der Militärgesetze, in
einem zweiten Stadium durch Negation des Geldbewilliqungsrechtes der
Kammer ihre Maßregel aufrecht zu erhalten. Tochter trat in dieser Lage
zur Opposition. Anspruchslos, schüchtern in seinem ersten Auftreten als
Redner, wurde ihm doch von Anfang an eine leitende Stellung unter
den politischen Freunden, persönliche Achtung und Rücksicht auf Seiten der
Gegner zu Theil. Wir finden ihn schon in den ersten Wochen als Bericht¬
erstatter über einen die „Anerkennung des Königreichs Italien" und einen
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124705/171>, abgerufen am 04.01.2025.