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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band.

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Theurer Herr Pastor. Vater und Großvater.

Am 20' August schrieb ich Ihnen einen Brirf, den Sie hier beigeschlossen
finden. Ich konnte ihn damals nicht zur Post geben, aber heute, da ich
wieder Briefe aus der Schweiz erhalten habe, füge ich ihn dem gegenwärtigen
bei, der Ihnen Alles sagen soll, was ich Schweres auf dem Herzen habe.

Ich habe diesen Krieg verabscheut; die Kriegserklärung war in meinen
Augen etwas Widernatürliches. Und darum stand ich in meinen Umgebungen
allein mit meiner Vertheidigung Deutschlands. Ich hatte in meinem Herzen
und in meinem Gewissen einen gleichen Platz für das deutsche und für das
französische Volk bewahrt, wie für alle andern, mit ihren verschiedenen guten
und schlechten Eigenschaften. -- Aber seit mehreren Tagen wird Straßburg
bombardirt! Wissen Sie das? Hat man diesen Wandalismus zugleich mit
den Siegesnachrichten verkündigt? O schändlich! Tragt es ein in eure Jahr¬
bücher, ihr Geschichtsschreiber, daß im August und September 1870 die Deut¬
schen, welche die Philosophen, Goethe miteinbegriffen, für eins der gebildetsten
Völker hielten, eine der herrlichsten Bibliotheken verbrannt haben, wie einst
die von Alerandrien durch Barbaren verbrannt wurde! Sie haben die Stadt
durch Bomben, mit Petroleum und Nitroglycerin gefüllt, in Brand gesteckt;
sie haben das protestantische Gymnasium in Asche gelegt, das aus dem Er¬
trage einer in der ganzen Welt gesammelten Collecte erbaut war, und noch
soviele andere herrliche Gebäude, die Tag sür Tag zusammenstürzen. Sogar
der Münster ist beschädigt; in diesem Augenblicke ist er vielleicht schon zu¬
sammengeschossen! Geschichtsschreiber und Philosophen tragt's zu Buche, tragt's
zu Buche! Die Nachwelt wird richten; denn Straßburg gehört der ganzen
Welt an durch seine Geschichte, durch seine Handschriften, durch seine Bau¬
denkmäler. Niemand hatte das Recht, das alles zu zerstören. Das ist nichts
als eifersüchtige Wuth von unsern Nachbarn. Aber Geduld! Für einen
Fehler, ja für mehr als einen Fehler, wenn Sie wollen, begangen von einem
unglücklichen Kaiser, der heute nur noch Mitleiden einflößt, begeht ihr Deut¬
schen Verbrechen? Geduld! Ihr habt euch die ganze Welt entfremdet; das
wird euch keinen Segen bringen. -- Ein einiges Deutschland herzustellen, das
war etwas Großes und Schönes; wie Frankreich durch Ludwig XI.. Richelieu,
Ludwig XIV., durch die Revolution und selbst noch durch Napoleon I. sich
zur Einheit erhoben hat, so mußte auch Deutschland eins werden; das war
sein Recht; das war vielleicht seine Pflicht. Frankreich war durch Tyrannen,
Despoten und Revolutionen geeint; Deutschland konnte und sollte sich auch,
mochte es sein durch welche Mittel, die Einheit gewinnen, und hätte sich's
auch 1871 oder 72 oder später noch zu einer Republik verkündet, wie es
Frankreich vielleicht einmal thun wird, jetzt, da es wieder erwacht ist. Der



Theurer Herr Pastor. Vater und Großvater.

Am 20' August schrieb ich Ihnen einen Brirf, den Sie hier beigeschlossen
finden. Ich konnte ihn damals nicht zur Post geben, aber heute, da ich
wieder Briefe aus der Schweiz erhalten habe, füge ich ihn dem gegenwärtigen
bei, der Ihnen Alles sagen soll, was ich Schweres auf dem Herzen habe.

Ich habe diesen Krieg verabscheut; die Kriegserklärung war in meinen
Augen etwas Widernatürliches. Und darum stand ich in meinen Umgebungen
allein mit meiner Vertheidigung Deutschlands. Ich hatte in meinem Herzen
und in meinem Gewissen einen gleichen Platz für das deutsche und für das
französische Volk bewahrt, wie für alle andern, mit ihren verschiedenen guten
und schlechten Eigenschaften. — Aber seit mehreren Tagen wird Straßburg
bombardirt! Wissen Sie das? Hat man diesen Wandalismus zugleich mit
den Siegesnachrichten verkündigt? O schändlich! Tragt es ein in eure Jahr¬
bücher, ihr Geschichtsschreiber, daß im August und September 1870 die Deut¬
schen, welche die Philosophen, Goethe miteinbegriffen, für eins der gebildetsten
Völker hielten, eine der herrlichsten Bibliotheken verbrannt haben, wie einst
die von Alerandrien durch Barbaren verbrannt wurde! Sie haben die Stadt
durch Bomben, mit Petroleum und Nitroglycerin gefüllt, in Brand gesteckt;
sie haben das protestantische Gymnasium in Asche gelegt, das aus dem Er¬
trage einer in der ganzen Welt gesammelten Collecte erbaut war, und noch
soviele andere herrliche Gebäude, die Tag sür Tag zusammenstürzen. Sogar
der Münster ist beschädigt; in diesem Augenblicke ist er vielleicht schon zu¬
sammengeschossen! Geschichtsschreiber und Philosophen tragt's zu Buche, tragt's
zu Buche! Die Nachwelt wird richten; denn Straßburg gehört der ganzen
Welt an durch seine Geschichte, durch seine Handschriften, durch seine Bau¬
denkmäler. Niemand hatte das Recht, das alles zu zerstören. Das ist nichts
als eifersüchtige Wuth von unsern Nachbarn. Aber Geduld! Für einen
Fehler, ja für mehr als einen Fehler, wenn Sie wollen, begangen von einem
unglücklichen Kaiser, der heute nur noch Mitleiden einflößt, begeht ihr Deut¬
schen Verbrechen? Geduld! Ihr habt euch die ganze Welt entfremdet; das
wird euch keinen Segen bringen. — Ein einiges Deutschland herzustellen, das
war etwas Großes und Schönes; wie Frankreich durch Ludwig XI.. Richelieu,
Ludwig XIV., durch die Revolution und selbst noch durch Napoleon I. sich
zur Einheit erhoben hat, so mußte auch Deutschland eins werden; das war
sein Recht; das war vielleicht seine Pflicht. Frankreich war durch Tyrannen,
Despoten und Revolutionen geeint; Deutschland konnte und sollte sich auch,
mochte es sein durch welche Mittel, die Einheit gewinnen, und hätte sich's
auch 1871 oder 72 oder später noch zu einer Republik verkündet, wie es
Frankreich vielleicht einmal thun wird, jetzt, da es wieder erwacht ist. Der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124705/139>, abgerufen am 22.12.2024.