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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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schoben wird. Denn lange kann sich das Ministerium unmöglich noch halten.
Die Verfassungssanatiker hatte er von Anfang gegen sich; die deutsche Reform¬
partei ging nur mit, bis sie inne wurde, auf wie schwachen Füßen die Ver¬
fassungstreue des Kabinets stehe und wie es schließlich in der That darauf
abgesehen zu sein scheine, die Verfassung nicht allein im Interesse der Ver¬
söhnung der nationalen, sondern auch im Geschmack der Freiheitsfeinde zu
revidiren; die deutschfeindlichen Regungen dieser selben Regierung endlich
brachten eine Annäherung zwischen den verschiedenen Fractionen der deutschen
Liberalen zu Stande; den nationalen und Klerikalen aber ist Potocki noch
viel zu unentschieden, viel zu versassungstreu, so wie Beust gegenwärtig den
Ungarn zu "preußisch" ist. Das halbe schwankende Wesen rächt sich jetzt.
Die Deutschen werden schwerlich in der Lage sein, eine Regierung zu bilden;
sie werden die Minorität sein im Reichsrathe und haben keine allgemein an¬
erkannten Führer. Aber getragen von einer buntscheckichen parlamentarischen
Mehrheit dürfte nun wohl die Partei des böhmischen Adels ans Ruder kom¬
men, welche decentralistren, die liberale Bourgeoisie demüthigen, die "Kirche"
schützen und den Rückhalt gegen ihre Feinde (denen sich bald ein großer
Theil ihrer jetzigen Freunde, die czechischen und polnischen Demokraten, bei¬
gesellen dürfte) in einem engen Bündniß mit Deutschland suchen wollen.
Sie pactiren mit Beust nicht; das weiß er so gut, als daß Preußen nicht
leicht an seine Aufrichtigkeit glauben würde, und deshalb wird er es wohl
vorziehen, sich für spätere Eventualitäten möglich zu erhalten. Und wie es
scheint, wollen die verrannten Czechen ihm einen brillanten Abgang bereiten,
indem sie ihre Angriffe auf die Verfassung nicht von deren Boden aus un¬
ternehmen.

Die Verwirrung ist grenzenlos am Vorabend der Neichsrathseröffnung.
Um die Czechen und Czechengenossen mürbe zu machen und der deutschen
Opposition eine Hauptwaffe zu entziehen, löste das Ministerium von allen
Landtagen nur den böhmischen nicht auf. Das hatte greifbare gute Folgen.
In deutschen Kreisen fing man an, sich der Negierung zu nähern, den Czechen
wurde vor ihrer Gottähnlichkeit bange, der Boden schien endlich für Ver¬
söhnungsversuche zwischen den Parteien selbst berettet zu sein. Da beeilt sich das
Ministerium, den geschickten Schachzug zurückzunehmen; der böhmische Land¬
tag wird auch aufgelöst, wie man allgemein glaubt, um einen Trumpf gegen
die deutschfreundlichen Manifestationen bei Ausbruch des Krieges auszuspielen;
es kommt ein Landtag mit entschiedener czechischer Mehrheit zu Stande, bei
welcher nun selbstverständlich von versöhnlicher Stimmung keine Spur mehr
vorhanden ist. Weshalb sollen die Czechen der erklärten Schwäche weichen!
Sie und die Tiroler leugnen die Rechtsbeständigkeit der Landtage, deren


schoben wird. Denn lange kann sich das Ministerium unmöglich noch halten.
Die Verfassungssanatiker hatte er von Anfang gegen sich; die deutsche Reform¬
partei ging nur mit, bis sie inne wurde, auf wie schwachen Füßen die Ver¬
fassungstreue des Kabinets stehe und wie es schließlich in der That darauf
abgesehen zu sein scheine, die Verfassung nicht allein im Interesse der Ver¬
söhnung der nationalen, sondern auch im Geschmack der Freiheitsfeinde zu
revidiren; die deutschfeindlichen Regungen dieser selben Regierung endlich
brachten eine Annäherung zwischen den verschiedenen Fractionen der deutschen
Liberalen zu Stande; den nationalen und Klerikalen aber ist Potocki noch
viel zu unentschieden, viel zu versassungstreu, so wie Beust gegenwärtig den
Ungarn zu „preußisch" ist. Das halbe schwankende Wesen rächt sich jetzt.
Die Deutschen werden schwerlich in der Lage sein, eine Regierung zu bilden;
sie werden die Minorität sein im Reichsrathe und haben keine allgemein an¬
erkannten Führer. Aber getragen von einer buntscheckichen parlamentarischen
Mehrheit dürfte nun wohl die Partei des böhmischen Adels ans Ruder kom¬
men, welche decentralistren, die liberale Bourgeoisie demüthigen, die „Kirche"
schützen und den Rückhalt gegen ihre Feinde (denen sich bald ein großer
Theil ihrer jetzigen Freunde, die czechischen und polnischen Demokraten, bei¬
gesellen dürfte) in einem engen Bündniß mit Deutschland suchen wollen.
Sie pactiren mit Beust nicht; das weiß er so gut, als daß Preußen nicht
leicht an seine Aufrichtigkeit glauben würde, und deshalb wird er es wohl
vorziehen, sich für spätere Eventualitäten möglich zu erhalten. Und wie es
scheint, wollen die verrannten Czechen ihm einen brillanten Abgang bereiten,
indem sie ihre Angriffe auf die Verfassung nicht von deren Boden aus un¬
ternehmen.

Die Verwirrung ist grenzenlos am Vorabend der Neichsrathseröffnung.
Um die Czechen und Czechengenossen mürbe zu machen und der deutschen
Opposition eine Hauptwaffe zu entziehen, löste das Ministerium von allen
Landtagen nur den böhmischen nicht auf. Das hatte greifbare gute Folgen.
In deutschen Kreisen fing man an, sich der Negierung zu nähern, den Czechen
wurde vor ihrer Gottähnlichkeit bange, der Boden schien endlich für Ver¬
söhnungsversuche zwischen den Parteien selbst berettet zu sein. Da beeilt sich das
Ministerium, den geschickten Schachzug zurückzunehmen; der böhmische Land¬
tag wird auch aufgelöst, wie man allgemein glaubt, um einen Trumpf gegen
die deutschfreundlichen Manifestationen bei Ausbruch des Krieges auszuspielen;
es kommt ein Landtag mit entschiedener czechischer Mehrheit zu Stande, bei
welcher nun selbstverständlich von versöhnlicher Stimmung keine Spur mehr
vorhanden ist. Weshalb sollen die Czechen der erklärten Schwäche weichen!
Sie und die Tiroler leugnen die Rechtsbeständigkeit der Landtage, deren


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/547>, abgerufen am 29.06.2024.